Nachspielzeit im Schlaraffenland

USA Statistiker vermelden die geringste Armutsrate seit 1980 - doch viele Gewinner der Prosperität werden ihres Wohlstands nicht froh

Präsidentschaftskandidat Al Gore macht zweigleisig Wahlkampf: Dank Clinton/Gore und der »New economy« sei doch vieles besser geworden, sagt der demokratische Hoffnungsträger gern. An seinen populistischen Tagen warnt er aber, dass die »working families« - werktätige Amerikaner also - ziemliche Probleme hätten und seine Hilfe gegen die republikanische Bedrohung bräuchten. Neue Statistiken reflektieren diese Widersprüche.

Die jüngsten Daten des wegen seiner Kompetenz und Neutralität bekannten Statistischen Amtes der USA verunsichern auch manche Kritiker der »neuen Wirtschaft«. Vielleicht haben die Miesmacher Unrecht mit ihren Klagen, dass die ganz unten nichts hätten vom Clintonschen Wirtschaftsboom. Die Armutsrate ist nach Angaben der Behörde nämlich deutlich zurückgegangen - von 15,1 Prozent 1993 und 12,7 Prozent im Jahr 1998 auf 11,8 Prozent, der niedrigste Quote seit 20 Jahren. Der Mittelwert der Haushaltseinkommen (Inflation berücksichtigt) war laut Census Bureau im vergangenen Jahr mit 40.816 Dollar höher als jemals zuvor und lag stolze 2,7 Prozent über den Angaben von 1998.

Eher Positives vermeldete vor kurzem auch das gewerkschaftsnahe Economic Policy Institute in Washington: Die Einkommenskluft zwischen arm und reich werde nur mehr langsam breiter. Löhne seien nach langer Stagnation zwischen 1995 und 1999 pro Jahr um 2,6 Prozent gestiegen, vor allem dank der niedrigen Erwerbslosenquote. Es gäbe auch immer weniger Arbeitssuchende, die sich mit Teilzeitjobs begnügen müssten. Beim Eintritt ins Arbeitsleben bekämen High School- und College-Absolventen jetzt wesentlich höhere Löhne als vor ein paar Jahren.

Arbeitslosenquote in den USA zwischen 1990 und 2000

(Angaben in Prozent)


Bezogen auf die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung

Bezogen auf die weiße Bevölkerung

Bezogen auf die schwarze Bevölkerung

1990(*)

5,6

4,8

11,4

1992

7,5

6,6

14,2

1994

6,1

5,3

11,5

1996

5,4

4,7

10,5

1998

4,4

3,9

8,9

1999

4,3

3,7

8,3

August 2000

4,2

3,5

8,0

(*) jeweils Jahresdurchschnitt

Quelle: Joint Economic Committee by the Council of Economic Advisers

Es kommt allerdings darauf an, wie man diese Zahlen interpretiert. Karitative Gruppen prangern den »Skandal« an, dass nach den neuen Statistiken 16,9 Prozent der Kinder trotz goldmedaillenreifer Haushaltseinkommen in offiziell armen Familien aufwüchsen, dass die afro-amerikanische Armutsrate mit 23,6 Prozent dreimal so hoch sei wie die weiße, und dass »11,8 Prozent arm« eben bedeute: 32,2 Millionen Amerikaner fristeten ein Leben unterhalb des Existenzminimums (17.029 Dollar Jahreseinkommen für eine vierköpfige Familie). Wenig Trost spenden Sozialarbeitern auch jüngste Daten des Landwirtschaftsministeriums, wonach heute 4,5 Millionen US-Amerikaner weniger unter Hunger und »Lebensmittelunsicherheit« leiden als 1995. »Nur« mehr 31 Millionen - 16 Millionen davon Kinder - seien zeitweilig hungrig oder könnten sich nur mühsam ausreichend ernähren.

Und Einkommen ist nicht alles. Viele »Gewinner« der neuen Wirtschaft werden ihres - relativen - Wohlstandes nicht so recht froh. Dazu fehlt ihnen die Zeit. Ein Großteil des Einkommenszuwachses resultiert nämlich aus Mehrarbeit. Die amerikanische Nation (in der drei Wochen Jahresurlaub als Luxus gelten) ist zum Anti-Schlaraffenland geworden. Wie das Economic Policy Institute vorrechnete, hat eine »typische« Mittelklassefamilie 1998 246 bezahlte Arbeitsstunden mehr abgeleistet als 1989. Ganz zu schweigen von den endlosen Anfahrtszeiten zum Job. (War da nicht mal was mit der 40-Stunden-Woche? 1886 die nationalen Streiks für eine gesetzliche 40-Stunden-Woche, und 1938 die »fair Labor«-Standardgesetze zum Festlegen der 40-Stunden-Richtlinie?)

Nicht nur bei den mit e-mail und Handy an den Arbeitsplatz geketteten High-Tech Fachleuten wird bedingungslose Treue in Form endloser Überstunden erwartet. Besonders betroffen sind die Service-Arbeiter der High-Tech-Industrie. Vor allem gegen Überstunden kämpften im August 80.000 Arbeiter der Telefonfirma Verizon. Bei dem Ostküsten-Telefonriesen waren 15 bis 20 Zwangsüberstunden pro Woche gang und gäbe. Wie schlecht die Bedingungen waren, zeigt sich bei dem mit einem zweiwöchigen Streik erkämpften Tarifabschluss, den die Gewerkschaft als Sieg feierte: Die Techniker, Installateure und im Kundendienst Tätigen dürfen jetzt nur mehr zu zehn Überstunden gezwungen werden - pro Woche. Amerikanische Gesetze schreiben vor, dass Arbeiter nach 40 Stunden 150 Prozent des Stundenlohnes bekommen. Doch für Verizon ist es günstiger, Überstunden zu zahlen als neue Leute einzustellen.

Zudem klassifizieren Arbeitgeber Beschäftigte zunehmend als »Manager« oder »Direktoren«, die Gehälter beziehen, und von der 150-Prozent-Regel ausgenommen sind. Im US-Kongress wird gerade über Reformen des »fair labor«-Gesetzes von 1938 beraten. Nach republikanischen Vorschlägen sollen bestimmte High-Tech- und Kommunikationsberufe von der Überstundenregel ausgenommen werden. Oder Überstunden sollten nach einem »Bonus«-System bezahlt werden, angeblich um Produktivität zu belohnen. All das zum Steigern der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes USA.

Was die positiven Armuts- und Einkommensdaten mit der »Neuen Wirtschaft« zu tun haben, ist nicht so ohne weiteres klar. Investitionen bei den neuen Technologien haben die Produktivität gesteigert, aber die meisten neuen Jobs lassen sich nicht in der High-Tech Industrie finden. Eine Prognose des US-Arbeitsministerium ernüchtert: Die meisten Berufe, bei denen bis zum Jahr 2008 der größte Zuwachs erwartet wird, haben nichts mit High Tech und Informationstechnologie zu tun. Die Liste laut Arbeitsministerium: Systemanalytiker, Verkäufer, Kassierer, Manager, Lastwagenfahrer, Büroangestellte, Krankenschwestern, Computertechniker, Altenpfleger, Gebäudereiniger ...

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