Am Vorabend der Präsidentenwahl blickt die bürgerlich-liberale USA auf ermutigende Umfragezahlen für ihren Kandidaten Joe Biden. Doch steht die Opposition vor einem Dilemma nach beinahe vier Jahren Donald Trump. Der amtierende Präsident hat keine Mehrheit gebraucht, um die Nation tief zu verändern. Seine Gegner waren häufig überwältigt, trotz der sich wiederholenden These von Kritikern, es werde „eng“ für Trump.
Der wahlkämpft mit Enthusiasmus, seit er nach eigener Angabe immun ist gegen das Coronavirus. Ein Trump ist kein „Loser“, schon gar nicht gegen einen Rivalen, den er als „schläfrigen Joe“ verspottet.
Dennoch sind die Umfragen für ihn durch die Bank problematisch. Selbst bei einer Erhebung im Pro-Trump-Sender Fox News Anfang Oktober lag Biden deutlich vorn. Nicht Umfragen seien richtungsweisend, sondern die große Zahl der Wähler, die ihn hören wollten, behauptete der auferstandene Präsident auf einem Flugplatz in Sanford (Florida) beim ersten Meeting nach der Infektion. Der Eindruck verhärtet sich, dass Trump mit umjubelten Auftritten die Basis mobilisieren will für das Anfechten eines für ihn negativen Wahlausgangs am 3. November. Was er seit der Amtsübernahme Anfang 2017 tut, sieht oft chaotisch aus, ist aber relativ konsequent, um persönlichen Interessen und denen seiner Leute und Freunde in der Wirtschaft zu genügen. In seiner Welt ist der Regierungsapparat der Feind. Vielen Anhängern gilt die Person Trump als Beschützer. Trump bemüht sich kaum um neue Wähler. Er hält fest an seiner Koalition, in der weiße rechte Christen und weiße Männer dominieren. Man sah das in Sanford. Der Ort hat Geschichte. Dort erschoss 2012 ein selbst ernannter Nachbarschaftswächter den schwarzen Teenager Trayvon Martin. Als der Todesschütze freigesprochen wurde, war das die Initialzündung für die Black-Lives-Matter-Bewegung. Trump prahlte in Sanford, er habe Polizeibehörden für Hunderte Millionen Dollar militärisch ausgerüstet, die Demokraten dagegen hätten der Polizei den Krieg erklärt. Die Vorstädte seien bedroht; sie waren lange Zeit Domizil der weißen Mittelschicht, Sinnbilder des amerikanischen Traums.
2016 war Trumps Koalition voller Empathie und zahlenmäßig schwach. Hillary Clinton erhielt fast drei Millionen Stimmen mehr, aber in den entscheidenden Swing-Staaten gewann Trump hauchdünn. Vier Jahre später kann er sich keine Abtrünnigen leisten. Das Konstrukt einer weißen Identität und Überlegenheit war in Trumps Regierungszeit der Klebstoff, der die Republikaner zusammenhielt. Reicht das zur Wiederwahl? Viele Weiße machen inzwischen mit bei Black-Lives-Matter-Kundgebungen. Dass Frauen sich vom Trumpismus distanzieren, wurde bereits 2018 bei den Zwischenwahlen deutlich, als sie mehrheitlich für demokratische Kandidatinnen und Kandidaten stimmten. Und die weißen Arbeiter, die scharenweise von den Demokraten zu Trumps Republikanern übergewechselt sind? Trump gibt offenbar vielen das Gefühl, sie würden respektiert. Doch das Jobwunder blieb aus, bereits vor der Pandemie. Und die Senioren, eine zu den Republikanern neigende Wählergruppe, machen sich Sorgen um das Coronavirus, weil sie ahnen, dass bei ihnen eine Therapie nicht so schnell greifen würde, wie das für Trump im Walter-Reed-Hospital angeblich der Fall war.
Das Virus befällt derzeit Trump-freundliche Staaten im Mittleren Westen, die versucht waren, die Anfänge an der Ostküste als „nicht mein Problem“ abzutun. Trumps Covid-19-Politik bestärkt Befürchtungen, dass er nicht mit herkömmlichen politischen Mitteln Präsident bleiben will. Bei seinem wochenlangen Zickzackkurs in der Debatte über ein neues Corona-Hilfspaket ließ er die Chance ungenutzt, dem Wahlvolk wohlwollend unter die Arme zu greifen. Jeder autoritäre Herrscher würde verstehen, dass „Brotverteilen“ eine gute Idee ist kurz vor einer Wahl. Millionen US-Amerikaner sind in Existenznot. Arbeitslosenhilfe gibt es in den meisten US-Staaten maximal für 26 Wochen. Die Pandemie dauert länger, und vor Monaten beschlossene Zusatzzahlungen sind ausgelaufen. Rund ein Zehntel der US-Bevölkerung gab in der zweiten Septemberhälfte an, man habe sich zuletzt nicht immer genug Lebensmittel kaufen können, berichten die Wirtschaftsforscher vom Center on Budget and Policy Priorities.
Es ist nicht die DNA der Republikanischen Partei Donald Trumps, schnell für sozialen Beistand zu sorgen. Den über einen funktionierenden Regierungsapparat zu leisten, würde gegen die republikanische Ideologie verstoßen. Man traut diesem Apparat so wenig wie den Wahlen. Trumps fortgesetzte Warnungen vor Betrug, der allein seinen Sieg verhindern könne, passt zum konservativen weißen Opfermythos, der 2016 so sehr geholfen hat. Nach vier Jahren an der Macht ist es freilich schwieriger, einen Opferstatus geltend zu machen. Trotzdem wird der schon jetzt bemüht, um im Fall einer Niederlage sagen zu können, die sei nur mit unrechten Mitteln zustande gekommen.
Joe Biden verspricht die Rückkehr zur vielfach ersehnten Normalität. Seine Rhetorik bewegt sich zusehends in die politische Mitte. Wenn die Umfragen nicht katastrophal falschliegen, sollte das reichen. Andererseits mussten die Demokraten in vergangenen Jahren häufig feststellen, dass gewinnt, wer sich nicht an die Spielregeln hält.
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