Das Foto des achtjährigen Martin Richard aus Dorchester in Massachusetts in seinem Eishockeytrikot der Boston Bruins rührt zu Tränen. Braune Augen, kleine Zahnlücke, bisschen abstehende Ohren, waches Gesicht. Der Drittklässler starb bei dem Bombenanschlag auf den Boston-Marathon. Er ist eines von drei Todesopfern bei diesem Volksfest mit 23.000 Läufern. Mehrere Schwerverwundete schwebten auch am Tag danach in Lebensgefahr. Martins Mutter und seine Schwester liegen mit Verletzungen im Krankenhaus. Mehr als 170 weitere Personen wurden verwundet, viele von ihnen schwer. Der Terror ist zurück, heißt es nun in den USA.
Elfeinhalb Jahre sind vergangen seit den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Washington. Kommentare sprachen immer von einer „trügerischen Ruhe“. Aber dennoch: Das Risiko, vom Blitz getroffen zu werden, ist in den letzten Jahren für US-Amerikaner größer gewesen, als das Risiko, einem Terroristen zum Opfer zu fallen. Ein paar Mal hatte man freilich Glück: Im Dezember 2009 funktionierte der Sprengsatz des „Unterhosenbombers“ Umar Farouk Abdulmutallab nicht, als er über Detroit ein Flugzeug mit 289 Menschen zum Absturz bringen wollte. Im Mai 2010 ging mitten in Manhattan ein von einem pakistanischen Einwanderer gelegter Sprengsatz nicht hoch. Und im Januar 2011 wurde eine Bombe entschärft, mit der ein weißer Rassist im Bundesstaat Washington einen Umzug zu Ehren von Martin Luther King blutig zu Ende bringen wollte.
Die rund 3.000 Toten vom 11. September 2001 und sechs Jahre davor der Bombenanschlag auf das Murrah-Regierungsgebäude in Oklahoma City, stellten die US-Bürger vor die Frage, wie man leben will im Angesicht ideologisch und religiös motivierter Terroranschläge – die einer offenen Gesellschaft immer passieren können. Golfkriegsveteran Tim McVeigh, der am 19. April 1995 in Oklahoma City 168 Menschen mit seiner Lastwagenbombe ums Leben brachte, war motiviert von fanatischem Hass auf die Regierung und seiner Angst davor, dass dieses Ungetüm die Freiheit in den USA abschaffen wolle. Die Täter vom 11. September 2001 fühlten sich von ihrem Gott auserwählt, die Ungläubigen im Feindesland USA zu bestrafen. Die Attacke auf das World Trade Center brauchte kein Bekennerschreiben.
Die Atmosphäre in diesen Tagen erinnert ein wenig an die in den Wochen nach den damaligen Anschlägen. Die Nation rückt zusammen. In Bosten öffnen Einheimische Fremden ihre Wohnungen. Restaurants verteilen Essen und Trinken. Ein Gefühl, dass man jetzt doch erst recht zusammensteht und helfen will. Nach dem Anschlag auf die Zwillingstürme suchten New Yorker Gemeinschaft, wollten, sofern überhaupt möglich, den Hinterbliebenen dabei helfen, das Leid mitzutragen. Nicht der Hass auf Muslime und die, die man für Muslime hielt, prägte die Stimmung. Die Wellen der Islamfeindlichkeit kamen erst später. Der damalige Präsident George W. Bush beschloss, die Anschläge zum Grund für seinen Kriegszug gegen Osama Bin Laden, die Taliban, al-Qaida und später dann gegen Saddam Hussein und den Irak zu machen.
Rechte Staatsfeinde
Die USA wurden zu einem anderen Land. Eine Art Sicherheitsstaat im permanenten Kriegszustand, der damit begann, seine Bürger auf bis dahin unvorstellbare Weise zu überwachen. Ex-Vizepräsident Dick Cheney würde sagen, dass man nur so die elfeinhalbjährige Terror-Pause ermöglicht habe. Auch nach dem Anschlag von Oklahoma City versuchten schon bald einige Politiker die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass nun bestimmte Rechte eingeschränkt werden müssten. Das Gesetz, das von Präsident Bill Clinton eingebracht wurde, hieß „Anti-Terrorismus und Gesetz für eine effektive Todesstrafe“. Es wurde mit überwältigender Mehrheit im Kongress beschlossen. Damals stand der Staatsfeind rechts. Auch das liberal orientierte Amerika verspürte Sympathien für schärfere Ermittlungsmöglichkeiten gegen die Milizen und sonstige waffentragende „Superpatrioten“.
Präsident Barack Obama hat wenige Stunden nach dem Bombenanschlag betont, die Täter würden „das volle Gewicht der Justiz zu spüren bekommen“. Man wisse aber noch nicht, wer dahinter stecke. Von konservativer Seite wird gewarnt, die US-Bürger müssten den Kampf gegen den Terrorismus ernster nehmen. Im Land habe sich eine Selbstzufriedenheit breit gemacht, die es auch vor 9/11 gegeben habe, beschwerte sich der Mehrheitsführer der Republikaner im Senat, Mitch McConnell. Die US-Amerikaner müssten sich nun „erneut zum Kampf gegen Terrorismus zu Hause und im Ausland verpflichten“. Was das bedeuten soll, hat er nicht erläutert.
„Wenn Bomben gegen Zivilisten eingesetzt werden, ist das ein Akt des Terrorismus“, sagte Obama. Die Definition des Begriffes „Terrorismus“ fällt allerdings schwer in den USA. Das Massaker an der Grundschule in Newtown in Connecticut mit 26 toten Kindern und Lehrerinnen gilt nicht als Terrorismus. Ebensowenig der Angriff eines Rassisten auf einen Sikh-Tempel in Ohio im August 2012 mit sechs Toten. Und nicht einmal der Anschlag auf die Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords im Januar 2011 mit ebenfalls sechs Toten. 30.000 Menschen kommen jedes Jahr in den USA durch Schusswaffen ums Leben, bei Morden, Suiziden und Unfällen.
Kein Land kann hundertprozentig sicher sein. Noch ist nicht absehbar, ob sich US-Amerikaner wegen der „Rückkehr des Terrorismus“ erneut zu Maßnahmen verleiten lassen, die im Namen der Sicherheit noch mehr Kontrollen und Überwachungsstaat bedeuten. Bisher waren die Reaktionen überwiegend besonnen. Es bleibt zu hoffen, dass sich das nicht ändert.
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