Sagenhaft verschätzt

Durchhalteparolen Die US-Zivilverwaltung wird sich ein neues Volk im Irak wählen müssen, soll die "Amtsübergabe" am 30. Juni stattfinden

Und jetzt? Die US-Streitkräfte und ihre Verbündeten im Irak haben die Kontrolle verloren. Auch wenn es ihnen gelänge, das tagelang umkämpfte Falludscha zu "befrieden" und die schiitischen Mahdi-Milizen Muqtada al-Sadrs diesmal zu stoppen. Die irakischen Kämpfer mögen nur eine Minderheit sein - um den Irak "unregierbar" zu machen, reicht eine Minderheit. Vor allem, weil die militärischen Kampagnen der Besatzer und verfehlte Maßnahmen wie die Schließung der Zeitung des Schiitenaktivisten al-Sadr der bewaffneten Minderheit neue Anhänger in die Hände treiben. Verteidigungsminister Rumsfeld hätte es leichter, träfe seine Behauptung zu, die Widerständler seien doch nur "Schlägertypen, Gangster und Terroristen".

Die Coalition Provisional Authority (CPA) hinter ihren Betonbarrieren wird sich letztendlich doch noch ein neues Volk im Irak wählen müssen, wenn die "Amtsübergabe" tatsächlich am 30. Juni stattfinden soll. Denn Bush, Rumsfeld und Cheney haben sich im Irak sagenhaft verschätzt und vorgeführt, was mit dem Begriff "Arroganz der Macht" gemeint ist. Ihr Handlungsspielraum wird immer kleiner; eine "Internationalisierung" der Besatzung, die vor ein paar Monaten vielleicht noch vorstellbar war, ist nun ein Schloss in den Wolken. CPA-Chef Paul Bremer wurde am Osterwochenende im US-Fernsehsender NBC gefragt, wem er am 30. Juni die Regierungsgewalt übergeben wolle. Das sei eine "gute Frage", antwortete Bremer.

In Washington wie auch im texanischen Ferienort Crawford erklingen Durchhalteparolen. Die US-Truppen bleiben, weil sie nun schon einmal dort sind - man werde sich nicht vertreiben lassen. Er sei überzeugt, die USA täten "das Richtige" im Irak, sagte Bush am Oster-Wochenende. Rumsfeld beschwichtigte, beim Aufbau einer Demokratie gebe es "gute Momente und weniger gute Momente", während neokonservative Denker den Iran verantwortlich für die schiitischen Milizen machen und Bush auch dort zum Durchgreifen raten.

Seine Mission sei, Muqtada al-Sadr zu fangen, "tot oder lebendig", sagte General Ricardo Sanchez, Kommandeur der im Irak stationierten Truppen. Was das Problem ebenso wenig lösen dürfte wie die Gefangennahme Saddam Husseins vor ein paar Wochen. Der Ex-Staatschef wurde inzwischen nach Medienberichten aus dem Irak weggebracht; die Koalitionsstreitkräfte hätten Befreiungsversuche befürchtet.

Was da heranbrodelt im irakischen Widerstand, ist freilich kein hehrer Freiheitskampf. Wohl eher eine diffuse Mischung von Menschen, die mehr als genug haben von der Besatzung, ständigen Ausgangssperren, der Arbeitslosigkeit und dem Sicherheitschaos und unbelehrbaren Anhängern Saddams sowie fanatischen Islamisten. Den Führern der Mahdi-Milizen schwebt eine gottesstaatliche Diktatur vor. Slogans bei Kundgebungen - "Tod den Juden, Tod für Amerika!" - lassen erschaudern. "Gemäßigte" schiitische Geistliche sind angeblich schwer unzufrieden, dass dem Islam in der neuen Verfassung nicht mehr Gewicht gegeben wird. Die Aussichten auf eine Demokratie bleiben sehr begrenzt. Und Massenvernichtungswaffen sind keine gefunden worden: Die Invasion war ein Desaster.

Schon sagen Kritiker, der Irak sei "Bushs Vietnam". In Vietnam sahen sich die USA aber einer bestens organisierten Guerillabewegung und den Streitkräften Nordvietnams gegenüber, die auf Rückhalt in den Nachbarländern Kambodscha und Laos zählen konnten. Davon sind die Aktionen des irakischen Widerstands weit entfernt. In einem Punkt trifft ein Vietnamvergleich freilich zu: Die Ereignisse in Falludscha und anderen Orten ähnelten der Têt-Offensive vom Januar/Februar 1968: Damals attackierten etwa 80.000 vietnamesische Guerillas und Soldaten Ziele in Saigon, Hue und anderen "sicher" geglaubten südvietnamesischen Städten. Die Angreifer wurden unter riesigen Verlusten zurückgeschlagen, aber der symbolische Kinnhaken saß. Rumsfeld und Kollegen müssen aufpassen, dass sie mit ihrem Zweckoptimismus nicht so in die Geschichte eingehen wie Mohammed Said al-Sahaf, Saddams letzter Informationsminister, der den Vormarsch amerikanischer Truppen bis zum bitteren Ende bestritt, als diese schon längst in Bagdad einmarschiert waren.


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