Soziale Reformvorhaben, Infrastruktur- und Klimaschutzprojekte schrumpfen zu Kompromissen. Im Kongress machen nicht alle Demokraten mit, während die Republikaner geschlossen dagegen sind. Ihre Partei zeigt wie schon so oft mehr Disziplin. Eine, die Joe Biden Wind aus den Segeln nimmt, ist Kyrsten Sinema, die demokratische Senatorin aus Arizona. Sie habe „eine unglaubliche Macht“, hieß es kürzlich im Sender CNN. Wegen der dünnen Mehrheit im Senat braucht der Präsident dort jede demokratische Stimme. Sinema und ihr Parteikollege, Senator Joe Manchin, haben sich als Bremsblöcke aufgestellt.
Sinema warnte bereits im Juli in der Zeitung Arizona Republic, sie werde nicht für Joe Bidens ehemals auf 3,5 Billionen Dollar angesetztes Reformpaket stimmen. Der klagte jüngst, die Senatorin sei keine Hilfe, wenn sie sage, sie wolle „keinen Cent durch Steuererhöhungen“ für Unternehmen und Wohlhabende. Manchins Vorbehalte gegen große Regierungsprogramme und mehr Klimaschutz überraschen nicht. Der 74-Jährige kommt mit West Virginia aus einem der weißesten US-Staaten. Donald Trump bekam dort bei der Präsidentenwahl 2020 gut 69 Prozent. Manchin ist ein Relikt aus jener Zeit, in der Demokraten trotz ihrer Bindungen zur Wirtschaft als Partei der weißen Arbeiterschicht galten. Er wurde zum Millionär dank West Virginias Kohleindustrie. Zwischen 2011 und 2020 habe er dort rund fünf Millionen Dollar verdient, berechnet die Investigativ-Plattform opensecrets.org.
Kyrsten Sinema gibt Rätsel auf bei der Frage nach ihren Beweggründen. Sie war erst 43 bei ihrem Amtsantritt 2019 im Seniorenheim des Senats mit einem Durchschnittsalter von 64 Jahren, wo – überspitzt gesagt – jeder meint, er oder sie wäre der bessere Präsident als der amtierende. Sinema stand irgendwie für etwas anderes. Auch optisch bevorzugte sie einen farbenprächtigen Stil in Kontrast zu den langweiligen Outfits vieler Kolleginnen und Kollegen. Das „erste offen bisexuelle Kongressmitglied“, wurde berichtet. Auch blieb Sinema als einzige der hundert US-Senatoren ohne irgendein religiöses Bekenntnis.
Zu den Demokraten kam die gelernte Sozialarbeiterin über die Grüne Partei. 2000 war sie Helferin von Ralph Nader im Wahlkampf gegen den Republikaner George W. Bush und den Demokraten Al Gore. 2003 protestierte sie gegen den Golfkrieg. Im selben Jahr schrieb Sinema in einem Leserbrief für die Arizona Republic gegen den Kapitalismus. Er habe den USA das Freihandelsabkommen NAFTA gebracht, von dem nur die Reichen profitierten. Bis der Durchschnittsamerikaner realisiere, dass der Kapitalismus schade, werde „weiterhin der allmächtige Dollar regieren“.
Das war einmal. Im März 2021 stimmte Senatorin Sinema als eine der wenigen Demokratinnen gegen einen erhöhten Mindestlohn und gegen eine Reform, die Teil eines großen Corona-Hilfspakets sein sollte. Ein Projekt von dieser Tragweite müsse nach offener Debatte als alleinstehendes Gesetz beschlossen werden, rügte Sinema. Sie äußerte sich skeptisch zu Plänen, die Kosten von Arzneimitteln zu regulieren. Ende Oktober streute sie Zweifel am demokratischen Vorhaben, Bidens Reformen mit einer höheren Unternehmenssteuer zu finanzieren. Manche Wähler sind frustriert von dieser Politikerin: Selbst örtliche Reporter in Arizona haben angeblich Probleme, mit ihr in Kontakt zu treten. Sie verhandle nicht in den Medien, sagt Sinema. Sie habe eine negative Presse, weil man in den Medien ihre distanzierte Haltung nicht möge.
Das Geschichte mit der Tankstelle erzählt Sinema oft, wohl auch um den Verdacht auszuräumen, sie habe kein Gefühl für Gerechtigkeit. Ihre Kindheit in ärmlichsten Verhältnissen habe sie geprägt. „Beinahe drei Jahre lang haben wir in einer geschlossenen Tankstelle gewohnt ohne fließendes Wasser und Strom.“ Manchmal hätten sie nicht genug zu essen gehabt und es nur mithilfe von „Familie, Kirche und – manchmal sogar – der Regierung geschafft“. Mit einem Stipendium studierte sie in Utah an einer Universität der Mormonenkirche.
2004 kandidierte Sinema mit Erfolg für das Parlament von Arizona. Sie machte sich einen Namen als Anwältin für Frauenrechte und – wagemutig in Arizona – für die gleichgeschlechtliche Ehe. Eigene Maximen hat sie 2009 in ihrem Buch Unite and Conquer umrissen und darin auch einen Appell zur überparteilichen Kooperation formuliert. Während der ersten Monate im Parlament sei sie auf einem „Kreuzzug für Gerechtigkeit“ gewesen und habe nicht viel erreicht. Entscheidend für Progressive sei nicht das Beharren auf eigenen Vorhaben, sondern die Suche nach Gemeinsamkeiten. Mit dieser Intention ging sie als Kongressabgeordnete ab 2013 nach Washington. Sinema hat einen langen Atem. Sie schwimmt, radelt und läuft bei Ironman-Triathlon-Wettkämpfen. Die Senatorin wirbt um Spenden aus der Wirtschaft. Die New York Times berichtete Ende September von einem Fundraiser für Sinema von Lobbygruppen, die Bidens Wirtschaftsprogramm ablehnen. Sinema sei eine Lieblingspolitikerin der Pharmaindustrie, schrieb der auf das Gesundheitswesen spezialisierte Informationsdienst Kaiser Health News.
Ihre Amtszeit als Senatorin läuft bis 2025. In Arizona arbeitet eine Gruppe, „Primary Sinema“, bereits am Aufbau eines Gegenkandidaten für nächste Wahlen. Doch aus Sinemas Sicht läuft es gar nicht so schlecht: Sie hat Einfluss, der Präsident lädt sie zum Einzelgespräch ins Weiße Haus, was nicht vielen Senatoren passiert. Die Demokratische Partei will progressiv und zugleich ein großes Zelt sein. So hat Joe Biden gewonnen. Rausgeschmissen wird niemand. Also gilt, Kyrsten Sinema muss er aushalten.
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