Im Januar reist Joe Biden ins Nachbarland Mexiko, zum Kollegen Andrés Manuel López Obrador, seine erste Reise als Präsident nach Lateinamerika. Den neuen brasilianischen Staatschef „Lula“ da Silva hat er bereits nach Washington eingeladen. Man wolle die „wichtige bilaterale Beziehung“ in Bewegung bringen, sagt Regierungssprecherin Karine Jean-Pierre. Biden will offenbar Möglichkeiten im Hinterhof erkunden. Süd- und Mittelamerika, das waren bislang keine Schwerpunkte für Team Biden, abgesehen von den Asylsuchenden und Migranten an der Grenze zu Mexiko. Sie wurden dort – nicht anders als unter Donald Trump – zu Hunderttausenden als Hilfesuchende abgewiesen. Bidens Lateinamerika-Politik, bemängelte kürzlich ein Kommen
mentar im linksliberalen Magazin The Nation, sei streckenweise „kaum zu unterscheiden von der seines Vorgängers“.Als Subkontinent ignoriert zu werden, ist vielleicht gar nicht so schlecht. Lateinamerika hat sich verändert, nicht erst, seit Trump ohne merkliches Interesse an diesem Erdteil in Washington residierte. Der republikanische Präsident hoffte, die Regierung von Nicolás Maduro in Venezuela stürzen zu können, auch wenn der Plan für einen Regime Change eher vage blieb (s. Übersicht). Er verhängte neue Sanktionen gegen Kuba. Kernstück seiner Politik war die „wunderschöne“ (Trump) Grenzmauer zu Mexiko.Gegenwärtig erfasst viele Staaten südlich des Rio Grande ein sanfter Linkstrend. Das alarmiert augenscheinlich Bidens Außenpolitiker. Neue Führungskräfte seien zur Zusammenarbeit mit China und Russland bereit und weniger zum Befolgen „amerikanischer Politik“, klagt ein Text im Wall Street Journal. Die Hegemonie sei auf den Kopf gestellt worden, bedauerte das Fachmagazin Foreign Policy: Washington müsse sich heutzutage an den „Launen kleiner Nationen“ orientieren. Bidens Anlauf im Juni 2022, das beim transkontinentalen „Summit of the Americas“ in Los Angeles zu ändern, hat wenig gebracht. Mexikos López Obrador blieb weg. Er akzeptierte nicht, dass die US-Regierung definieren wollte, wer zu „den Amerikas“ gehört und wer nicht. Biden hatte Nicaragua, Kuba und Venezuela nicht eingeladen.Der US-Präsident ist mit seinen 80 Jahren alt genug, um allerhand außenpolitische Wandlungen miterlebt zu haben. Er kam 1973 in den US-Senat, im Jahr des von den USA geförderten Militärputsches gegen eine sozialistische Regierung in Chile. In Brasilien regierte seit 1964 ein Militärregime, das bis 1985 währen sollte. Das waren die Jahre, in denen US-Regierungen im Namen des Antikommunismus und zum Schutz wirtschaftlicher Interessen im Süden unsägliche Repressionen, vor allem Folter, akzeptierten und begünstigten. Im Juni 2014 war Biden Vizepräsident unter Barack Obama und Zuschauer bei einem Sieg der US-Nationalmannschaft während der Fußball-WM in Brasilien – beim 2:1 gegen Ghana. Biden hatte explosive Menschenrechtsdokumente im Gepäck für sein Treffen mit Dilma Rousseff, Präsidentin und Ende der 1960er Jahre im Widerstand gegen die Militärdiktatur. In Brasilien suchte eine Wahrheitskommission seit 2011 nach den Verantwortlichen für Entführungen und Folter (heute stehen die von Biden übergebenen Papiere auf der Website des Forschungsinstituts National Security Archive).William Rountree, US-Botschafter in Brasilia, empfahl 1972, man solle Exzesse der regierenden Obristen nicht öffentlich verurteilen. Das sei kontraproduktiv und schade den Beziehungen. Ein Bericht des US-Konsulats in Rio de Janeiro mit dem Titel „Weitverbreitete Festnahmen und psychophysikalische Verhöre verdächtigter Subversiver“ vom April 1973 beschrieb detailliert, dass der brasilianische Sicherheitsapparat neben Foltermethoden wie Elektroschocks zunehmend Mittel einsetzte, die keine sichtbaren Spuren hinterließen. Die USA müssten ihre Vergangenheit in Lateinamerika annehmen, um sich auf eine vielversprechende Zukunft zu konzentrieren, sagte Biden, als er seinerzeit die Fußball-WM besuchte. Sein damaliger Chef war an Neuanfängen interessiert. Ende 2014 einigte sich Obama mit dem kubanischen Staatschef Raúl Castro darauf, die Beziehungen zu normalisieren. Obama sah das praktisch: Kuba zu isolieren, bringe den USA nicht mehr viel. Biden hat als Präsident den Aufbruch gegenüber Havanna gedrosselt und das seit März 1962 (!) geltende Handelsembargo gegen Kuba durch weitere Sanktionen erneuert.So bleibt der Karibikstaat das Symbol für eine festgefahrene, stereotype Lateinamerika-Politik der USA. Demokratische Präsidenten sind zaghaft, wo es um die Partnerschaft mit den linken Regierungen in Lateinamerika geht. Zu Hause verschafft sich Biden lieber Spielraum durch das Festhalten am harten Antikommunismus gegen Kuba und Nicaragua. Und die Demokratische Partei nimmt Rücksicht auf den wahlwichtigen und ergebnisoffenen Staat Florida mit seinen einflussreichen Exilkubanern. Doch haben sich in Florida die Republikaner bei den jüngsten Kongresswahlen klar durchgesetzt. Auf Wünsche der Exilkubaner einzugehen, bringt Biden wenig.