Viel Granit zum "Memorial Day"

Balsam für die amerikanische Seele Die Erinnerung an den GI als Befreier

Auch in den USA wächst die Kritik an George W. Bushs Irakpolitik. Aber noch immer - auch nach den Folterbildern von Abu Ghraib - trennen Welten die USA und den skeptischen "Rest der Welt". Es ist nicht ins amerikanische Bewusstsein eingedrungen, dass Bushs "Krieg gegen den Terrorismus" im Irak und in Afghanistan mehr zivile Menschenleben gefordert hat als die Anschläge auf das World Trade Center. Dass der "befreite" Irak Rekrutierungsfeld extremistischer Islamisten ist, wie selbst das keineswegs "linksverdächtige" International Institute for Strategic Studies in London berichtet. Dass Bushs Rechtfertigungsgebäude für den Krieg total zusammengebrochen ist.

Am vergangenen Wochenende begingen die USA den Memorial Day, den Nationalfeiertag zum Gedenken an die gefallenen Soldaten. In Washington wurde das Denkmal zum Zweiten Weltkrieg eröffnet. Auf Rollstühlen, mit Krücken und Gehstöcken kamen sie, Zehntausende Veteranen, offensichtlich dankbar, von der Nation geehrt zu werden mit dem ersten nationalen Memorial, seinen triumphalistischen Granitsäulen mit Adler und Lorbeerkränzen. Als 18- und 19-Jährige hatten sie ihre insulare Heimat verlassen und im Pazifik wie in Europa gegen die Aggressoren gekämpft. 405.000 kamen ums Leben, 672.000 wurden verwundet. Die Ehrung am Wochenende war Balsam für die amerikanische Seele, eine Erinnerung an den GI als Befreier.

An diesem Tag des Gedenkens knatterte auch - wie alljährlich - Rolling Thunder durch Washington, der "rollende Donner", das heißt, mehr als 10.000 Harley-Davidsons und sonstige schwere Motorräder, auf denen kurz vor der Rente stehende Vietnamveteranen saßen und ihre lederbekleideten Fans. Den Bikern ging es um das "Schicksal der in Vietnam vermissten Soldaten und Kriegsgefangenen". Bush dankte den Versammelten via Telefonlautsprecher und lud eine Gruppe ins Weiße Haus ein - das verhieß gute Fotos für den Wahlkampf.

Der Vietnamkriegsveteran und demokratische Präsidentschaftskandidat John Kerry saß derweil bei einem Veteranenumzug in Virginia auf der Tribüne. Rolling Thunder mag Kerry nicht, weil er letztendlich gegen den Krieg gewesen sei, zusammen mit der verhassten Schauspielerin und Nordvietnam-Touristin Jane Fonda. Der Memorial Day gilt in den USA auch als "offizieller" erster Sommertag. Die Straßen Richtung Strand sind verstopft, Freibäder machen auf, der Grill wird aus der Garage gezerrt. Dieses Jahr dachten viele Sonnenhungrige aber auch an den ursprünglichen Sinn dieses Tages. Im Irak sind am Memorial Day wieder amerikanische Soldaten gefallen. Dabei kollidiert das Bild vom GI als Befreier und vom GI, der in Vietnam angeblich von Politikern und "Jane-Fonda-Typen" verraten wurde, mit dem Bild vom GI als dem ungeliebten Besatzer. Die Macht der Fotos von feixenden Soldaten und Soldatinnen im Abu-Ghraib-Gefängnis wird besonders von den republikanischen Meistern der Meinungsbildung erkannt.

Aber so neu ist das alles nicht. Kurz vor dem Memorial Day wurde im US-Nationalarchiv eine Serie von Tonbändern aus Richard Nixons Weißem Haus freigegeben. Am 21. November 1969 hielten dort Sicherheitsberater Henry Kissinger und Verteidigungsminister Melvin Laird Kriegsrat. Es seien böse Bilder aufgetaucht von Leichen in dem vietnamesischen Dorf My Lai. Er habe die Berichte über das Massaker "unter den Teppich" kehren wollen, klagte Laird, aber die Fotos machten das unmöglich.

Lairds Nachfolger Donald Rumsfeld steht nun vor einem ähnlichen Problem. Ausgerechnet der republikanische Senator John McCain, jahrelang als Kriegsgefangener in Nordvietnam, widersetzt sich der These der Bush-Getreuen, dass "nach 9/11" die Genfer Konvention nicht mehr unbedingt gelte.

Auf demokratischer Seite rechnete Ex-Vizepräsident Al Gore mit Bush ab: Der Präsident mache arrogante Politik. Ideologie dominiere, nicht die Realität. Bei der Wirtschaftspolitik und vor allem bei der Politik "gegen den Terrorismus", mit der außenpolitische Allianzen und rechtsstaatliche Grundsätze zerschlagen würden. Die USA seien heute eine unfreiere und brutalere Nation als vor Bushs Amtsantritt. John Kerry hält sich allerdings zurück, hat er doch als Senator für den Krieg gestimmt. Er verzichtet auf sendungsbewusste Reden vom Demokratietransfer, sonst zeichnen sich beim Irak aber kaum Unterschiede zu Bush ab: Die US-Soldaten blieben, irakische Streitkräfte würden ausgebildet, die NATO und die UNO um Hilfe gebeten.

Die USA sind, trotz einer Tradition individueller Rechte und Freiheiten, die bis in eine Zeit zurückreicht, als in Europa noch der Adel das Sagen hatte, eine - verglichen mit dem modernen Europa - militarisierte Nation. Und die paar Pazifisten werden gefragt, ob sie dagegen seien, dass die Amerikaner seinerzeit die Konzentrationslager befreit hätten.

Die Anschläge vom 11. September 2001 - gebetsmühlenartig zitiert von denen an der Macht - führen zur Akzeptanz überwachungsstaatlicher Maßnahmen zu Hause und militärischer Einsätze im Ausland. Kein Politiker will nach dem nächsten Angriff nicht "genug" getan haben. Ein Teufelskreis: Ist es doch gerade dieses neue Sicherheitsdenken, das ein Nährboden fundamentalistischer Gruppen ist. Wird Bush im November wiedergewählt, droht die Erweiterung des "Krieges gegen den Terror"; käme es außerdem zu einem erneuten Anschlag in den USA, wären ein Polizeistaat und der Verzicht auf grundlegende Bürgerrechte die Folge. Gewinnt John Kerry, muss der den Irak "abwickeln", doch ein Abzug der US-Streitkräfte wäre für ihn keine Option. Ansonsten liefe die rechtsideologische Angriffsmaschine auf Hochtouren. Dann hätten "die Demokraten" den Irak verloren.


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