Von der Wall Street bis ins Silicon Valley

USA Die Occupy-Bewegung macht sich in den ganzen Vereinigten Staaten breit. Politik und Polizei wissen noch nicht: Wie sollen sie umgehen mit dem Protest?

Im Nobelvorort New Canaan in Connecticut tauchten am Wochenende zwei Busladungen Aktivisten vor der Villa des Geschäftsführers von General Electric auf. Jeffrey Immelt habe voriges Jahr 21 Millionen Dollar Gehalt bezogen und seit 2008 19.000 Arbeiter entlassen. Am Montag demonstrierten 200 Occupy Los Angeles-Besetzer bei der Aktionärsversammlung von Rupert Murdochs News Corp. gegen die Berichterstattung des „einen Prozents über die 99 Prozent“. Und in Des Moines in Iowa, dem ersten Vorwahl-Bundesstaat, marschierten Aktivisten zu Barack Obamas Wahlbüro. Der Präsident solle auf die Wähler hören, nicht auf die Geldgeber.

Besetzen ist nicht alles. Die 99 Prozent von „Besetzt die Wall Street“ testen zusätzliche Wege des Protests gegen die Macht des großen Geldes. Seit den Bewegungen der sechziger Jahre hat es so etwas nicht mehr gegeben: Nach nur fünf Wochen auf dem Zuccotti Platz in Manhattan hat Occupy Wall Street – in der Fussballsprache – das Spiel gedreht. Mit Spiel ist die politische Debatte in den USA gemeint, die jahrelang dominiert war von der Behauptung, „der Staat“ behindere, weniger Staat sei besser. Occupy Wall Street stellt diese Weisheit medienwirksam in Frage, etwas, das Akademikern, linken Parteien, Publizisten und Gewerkschaftern nie richtig gelungen ist. Es geht den Besetzern ganz „altmodisch“ um Solidarität. Selbst Notenbankchef Ben Bernanke räumte ein, die Aktivisten hätten zumindest teilweise recht, dass der Finanzsektor schuld sei an der Wirtschaftskrise.

Erste Konfrontationen

Die Occupy-Thesen seien nicht radikal, kommentierte Albert Hunt, bis vor kurzem Wall Street Journal, heute Washington-Bürochef des Finanznachrichtendienstes Bloomberg News: Die wirtschaftliche Ungleichheit in den USA wachse seit Jahrzehnten, und in der Bevölkerung habe sich die Überzeugung durchgesetzt, „die Reichen sind versorgt worden, während der Durchschnittsbürger leidet“. In Dutzenden Städten der USA wird „besetzt“. In Washington sind es sogar zwei Plätze, auf einem stehen rund hundert Zelte. Uniformierte bleiben im Hintergrund, Polizeiautos fahren mit, wenn ein paar Dutzend Besetzer zum Demonstrieren und Konto-Kündigen zu einer Bank ziehen. Polizei und Lokalpolitiker wissen nicht so recht, wie sie mit den Protesten umgehen sollen.

Insgesamt geht der Trend allerdings in Richtung Konfrontation. In Chicago, Bürgermeister ist dort Obamas Ex-Stabschef Rahm Emanuel, hat die Polizei am Wochenende mehr als hundert Besetzer verhaftet. Auch in Boston, San Francisco und Denver gab es Festnahmen, zuweilen recht gewalttätig. In Oakland und Atlanta droht die Polizei seit Tagen mit Räumung. New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg, als Milliardär definitiv Teil des „einen Prozents“, kann sich offenbar nicht entscheiden: Hunderte wurden festgenommen, die Polizei möchte gern mehr durchgreifen: Aber die Räumung des Zuccotti Parks Mitte Oktober scheiterte am gewaltlosen Widerstands Tausender, die sich ringsherum versammelten.

Hoffen auf den Winter

Manchmal liefert die Wall Street den Besetzern die besten Argumente. Gerade wurde bekannt, Goldman Sachs habe zehn Milliarden Dollar reserviert für Boni, zahlbar Ende des Jahres. Im dritten Quartal 2011 entließ die Bank 1.300 ihrer rund 30.000 Angestellten. Konservative kommen überhaupt nicht zurecht mit Occupy Wall Street, sind sie bei ihrer Kritik am „aufgewärmten Anarchismus“ und Drogenkonsum der Protestler festgefahren in den sechziger und frühen siebziger Jahren. Damals konnten die Republikaner stämmige Bauarbeiter losschicken, um Hippies zu verprügeln. Auf dem Zuccotti besetzen die Stahlarbeiter mit. Und es gilt „no drugs and alcohol“.

Oft gibt es Vergleiche, die Washington Post hat das kürzlich auf ihrer Titelseite erörtert und vermerkt, dass die Besetzer „verwandt“ seien mit der beginnenden Tea Party vor gut zwei Jahren. Die Tea Party sprach allerdings vorzugsweise die weiße Mittelschicht an, das „wirkliche Amerika“, wie Sarah Palin meint. Die Mittelklasse fürchtete um den Verlust ihrer relativen Privilegien, hatte aber auch ganz reale wirtschaftliche Sorgen, die in der Tat denen der Besetzer ähneln. Die Angst wurde aber vereinnahmt für eine Kampagne gegen die vom ersten afro-amerikanischen Präsidenten personifizierte Elite.

Die Wall Street hofft offenkundig, der Winter werde zumindest im Norden die Besetzer vertreiben. Auf den Steinplatten des Zuccotti Parks ist es schon jetzt recht kalt, wenn die Sonne untergeht. Die Besetzer diskutieren weitere Aktionen. Wohnhäuser besetzen, wenn der Gerichtsvollzieher kommt, weil Besitzer die Hypotheken nicht mehr bezahlen können. Oder eine nationale Volksversammlung im Juli 2012, zeitgleich mit den republikanischen und demokratischen Wahlkongressen. Oder Occupy-Unterstützer wählen als Delegierte zur demokratischen Versammlung, um Druck zu machen auf Barack Obama.

Konrad Ege berichtet seit Jahren für den Freitag aus den USA

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