Welt auf dem Kopf

Die USA am 2. November Bushs Regierung hat viel zerstört - auch den Glauben an einen regulären Wahlverlauf

Am 2. November stimmen die US-Amerikaner nicht nur über den nächsten Präsidenten ab, es wird sich auch zeigen, für welche "Realität" sich die Wähler entscheiden. Präsident Bush gibt der Nation schon lange die Gelegenheit, sich eine alternative Realität auszusuchen. In der wurde der Treibhauseffekt von "Wissenschaftlern erfunden", ist im Irak die "Freiheit auf dem Vormarsch", "beweisen" historisch schlechte Wirtschaftsdaten, dass es vorwärts geht. Auch ist Amerika dank des Krieges gegen den Terrorismus "sicherer" geworden, obwohl die Regierung vor Anschlägen zum Wahltag warnt. In dieser Realität ist der Vietnamkriegsdrückeberger Bush ein Kriegsheld und John Kerry mit den vielen Orden aus seiner Militärzeit in Vietnam ein Verräter.

George W. Bush und seine Machiavellis haben die Welt auf den Kopf gestellt. Und viele Amerikaner sind offensichtlich bereit, Bush als vertrauenswürdigen und "starken Führer" zu akzeptieren, weil er doch seine Meinung nie ändert und statt dessen eben die Realität seiner Meinung und seinen Vorhaben anpasst. Die New York Times berichtete kürzlich über ein Interview mit einem - leider nicht namentlich genannten - ranghohen Berater des Präsidenten, der einen Times-Artikel kritisiert hatte, weil der davon ausgegangen sei, dass die Regierung nach dem "Prüfen der erkennbaren Realität" Entscheidungen treffe. So funktioniere das nicht mehr, habe der Berater korrigiert. "Wir sind jetzt ein Imperium, und wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität". Der konservative Fernsehprediger Pat Robertson gab kürzlich zum Besten, Bush habe ihm vor der Irak-Invasion versichert, es werde im Irak keine amerikanischen Toten und Verwundeten geben. (Das Weiße Haus dementierte Robertsons Erinnerungen umgehend.)

Die republikanische Selbstsicherheit kommt an in einer verunsicherten Nation oder zumindest bei Menschen, die keine Grauschattierungen brauchen können. Vor allem, wenn der Mann an den Hebeln der Macht signalisiert, er fälle seine Entscheidungen nicht mit Hilfe von Experten und nicht einmal nach Ratschlag mit seinem erfahreneren Vater, sondern nach Anruf seines himmlischen "Vaters". Nach einer Umfrage der University of Maryland ist eine bedeutende Mehrheit der Anhänger des Präsidenten von Saddam Husseins Unterstützung für al Qaida überzeugt. Etwa die Hälfte meine, der Irak habe vor der US-Invasion Massenvernichtungswaffen besessen. Obgleich der von Bush selbst beauftragte Experte Charles Dülfer und die gleichfalls vom Präsidenten eingesetzte 9/11-Kommission feststellten, es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben und keinen Draht Saddams zu al Qaida. Außerdem erklärten 57 Prozent der Bush-Wähler, ihrer Ansicht nach sei die internationale Öffentlichkeit mehrheitlich für die Wiederwahl des Präsidenten.

Bushs Regierung hat viel zerstört in ihren knapp vier Jahren. Amerikanische Grundannahmen sind nicht länger gültig. Etwa, dass eine Stimmenauszählung fair durchgeführt wird und sich nach der Wahl alle Wähler einigen können, sie hätten nach den Regeln der Demokratie gewonnen oder verloren. Tausende Rechtsanwälte und Freiwillige bereiten sich schon jetzt in den besonders strittigen Bundesstaaten auf Kontroversen über die Gültigkeit der am 2. November abgegebenen Stimmen vor. In Ohio, Pennsylvania und anderswo mobilisieren Republikaner "Wahlbeobachter", die in mehrheitlich demokratischen Wahlbezirken angeblich sicher stellen sollen, dass niemand ohne die richtigen Papiere abstimmt. In Florida hat der Gouverneur - ein Bruder des Präsidenten - nur wenige der nach dem Wahlfiasko von 2000 vorgeschlagenen Reformen eingeführt. Ex-Präsident Jimmy Carter, seit Jahren als Wahlbeobachter im Ausland tätig, hat gewarnt: Floridas Probleme bei der Stimmenauszählung würden sich "wahrscheinlich" wiederholen. Es könnte wieder Wochen und Monate dauern, bis der nächste Präsident feststeht.

Der Wahlkampf hat zuletzt geradezu religiöse Züge angenommen. Etwas wie Endzeitstimmung war zu spüren. Sogar John Kerry zitierte aus der Bibel ("An ihren Werken werdet ihr sie erkennen"), und für George Bush mobilisieren konservative Evangelikale - selbst der Jesus in Mel Gibsons umstrittenem The Passion of the Christ. Nach Angaben des rechtschristlichen Verbandes Redeem the Vote, der sich besonders an junge christliche Wähler richtet, hat Jim Caviezel eine streaming e-mail produziert und an "Millionen" mutmaßlich konservative und evangelikale Wähler verschicken lassen. Die e-mail-Adressen wurden von den Firmen gesammelt und zur Verfügung gestellt, die The Passion of the Christ vermarktet hatten.


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