Die Zahl der Todesurteile geht zurück in den USA – von 315 noch 1996 auf 78 im Jahr 2011. Doch die Todesstrafe gehört als ultimativer Machtbeweis der Jusitz weiter zum Alltag im Rechtsstaat USA. Das war nicht immer so: 1972 wurde die Höchststrafe per Verfassungsurteil abgeschafft. Der Fall, bekannt als Furman v. Georgia, hat seinerzeit Hunderte von Menschenleben gerettet, doch auch zu den heutigen modernen Todesstrafen-Gesetzen geführt, die gerechter seien als die damaligen, wie es heißt. „Gerechter“ ist nach Ansicht von Menschenrechtlern nicht gut genug. Und erst recht nicht aus Sicht derer, die fälschlich zum Tod verurteilt werden.
Vor 40 Jahren war Richard Nixon Präsident, Ronald Reagan Gouverneur von Kalifornien. Beide empörten sich über das Urteil des Obersten Gerichts vom 29. Juni 1972: Die Todesstrafe in den USA, befanden die Richter mit fünf zu vier Stimmen, sei verfassungswidrig. Mit einem Schlag war sie in den USA abgeschafft – genauer: in den 40 der 50 Bundesstaaten, die damals dieses Strafmaß bei besonders schweren Verbrechen vorsahen. Kein elektrischer Stuhl mehr, kein Erschießen, keine Gaskammer, kein Henken. Mehr als 600 Häftlinge saßen um diese Zeit in den Todeszellen. Ihre Strafen wurden in lebenslänglich umgewandelt.
Der Fall Henry Furman
Reagan gab sich entrüstet, die Richter hätten sich über den „Volkswillen“ hinweggesetzt. Nixon kritisierte, es sei Mode geworden, „die Gesellschaft“ für die Taten Krimineller verantwortlich zu machen. Andersherum sei es richtig: Die Gesellschaft mache sich schuldig, „wenn sie den Verbrecher nicht bestraft“. Law and Order war ohnehin das Lieblingsthema des Republikaners, dessen Niedergang zum Zeitpunkt des Urteils bereits begonnen hatte – wegen krimineller Aktivität. Freilich ahnte kaum jemand, dass der Einbruch ins Büro der Demokratischen Partei am 17. Juni 1972 im Watergate-Gebäude Nixon zu Fall bringen würde. (Der trat am 9. August 1974 zurück.)
Reagan hatte persönliche Erfahrungen mit der Todesstrafe. Als Gouverneur von Kalifornien entschied er über Gnadengesuche von Todeshäftlingen. Der Westküstenstaat verfügte 1972 über eine Gaskammer und mit 107 zur Höchststrafe Verurteilten über den größten Todestrakt der Nation. Ob Reagan „tief im Herzen“ wirklich ein enthusiastischer Befürworter des Vergasens war – die Todesqualen konnten bis zu zehn Minuten dauern –, blieb ungewiss. Der im April 1967 hingerichtete 37-jährige Afro-Amerikaner Aaron Mitchell, der einen weißen Polizisten erschossen hatte, soll an seinem Todestag gesagt haben: „Jeder Neger, der wegen Polizistenmord verurteilt wurde, ist in dieser Gaskammer gestorben.“
Doch zurück zum Beschluss des Obersten Gerichts und seiner Vorgeschichte. Sie begann am 11. August 1967 in Georgia, im Städtchen Savannah. Der 29-jährige William Micke, seine Frau und die fünf Kinder schlafen. Ein Geräusch weckt Micke auf. Er schaut nach. In der Küche steht ein schwarzer Mann mit Revolver. Der Unbekannte schießt, verletzt Micke tödlich und ergreift die Flucht. Der Einbrecher heißt William Henry Furman. Bevor es zum Verfahren kommt, untersucht das Zentralhospital dessen geistige Verfassung. Der junge Mann sei „emotional gestört und geistig beeinträchtigt“, befinden die Ärzte. Der Prozess selbst dauert einen Tag. Furman wird im September 1968 zum Tode verurteilt, sein Pflichtverteidiger erhält 150 Dollar Honorar.
Ende der sechziger Jahre wird die Todesstrafe eher kontrovers diskutiert. Wie die Meinungsforscher des Gallup-Instituts mitteilen, sprechen sich nur noch 42 Prozent der Amerikaner dafür aus. Der Bürgerrechtsverband National Association for the Advancement of Colored People tritt für die Abschaffung ein und strebt ein Grundsatzurteil an, wonach die Todesstrafe, die willkürlich und überproportional gegen Afro-Amerikaner verhängt werde, nicht vereinbar sei mit dem Fairness-Gebot der Verfassung. In Georgia etwa sind von 1925 bis Ende der sechziger Jahre 337 Schwarze und 78 Weiße hingerichtet worden.
Die Tür bleibt offen
Der Todeskandidat Furman hat Riesenglück. Hochkarätige Anwälte nehmen sich der Sache an. Anthony Amsterdam bringt das Berufungsverfahren bis zum Obersten Gericht und erklärt, das Todesurteil verstoße gegen den 8. Zusatz zur US-Verfassung, der „grausame und ungewöhnliche Strafen“ verbietet. Die Richter hätten keine allgemeingültigen Richtlinien für das Verhängen der Todesstrafe erhalten, so Amsterdam: Sie könnten nach Lust und Laune urteilen. Arme, Schwarze, Ungebildete und geistig Kranke würden eher zum Tode verurteilt als wohlhabende Weiße. Allein diese Diskrepanz mache die Todesstrafe „grausam und ungewöhnlich“. Die Obersten Richter geben Amsterdam recht. Genauer: fünf der neun tun das. Die Todesstrafe, wie sie praktiziert werde, sei „grausam und ungewöhnlich, so, wie ein Blitzschlag, der jemanden trifft, grausam und ungewöhnlich ist“, schreibt der Verfassungsrichter Potter Stewart in seiner Urteilsbegründung am 29. Juni 1972. Aber: Nur zwei Richter, William Brennan und Thurgood Marshall, sind der Ansicht, dass die Todesstrafe als solche gegen die Verfassung verstoße. Drei der fünf Juristen, die für Furman stimmen, und natürlich die vier in der Minderheit, lassen die Tür offen zur Wiedereinführung, sollten die Gesetze umgeschrieben werden.
Die meisten Staaten machten sich umgehend an die Arbeit. 1976 urteilte das Oberste Gericht, Georgias neues Todesstrafen-Gesetz sei verfassungskonform, schaffe es doch feste Kriterien für Todesurteile. Das Verfahren werde aufgeteilt in Schuldfindung und Festlegen des Strafmaßes. Die Geschworenen müssten mildernde und belastende Umstände in Betracht ziehen. Konsequenz: Heute dürfen wieder in 33 Bundesstaaten Mörder in besonders schweren Fällen zum Tode verurteilt werden. Andererseits wird die vom Obersten Gericht 1972 angestoßene Frage, ob die Todesstrafe als solche „grausam und ungewöhnlich“ sei, mit zunehmender Intensität diskutiert. Es geht vorrangig um die Gefahr, dass Unschuldige hingerichtet werden. Immerhin mussten seit den siebziger Jahren 140 Todeshäftlinge als unschuldig entlassen werden.
Und ob jemals ein Unschuldiger exekutiert worden ist? Die Antwort lautet: ja. Erst im Mai veröffentlichte ein akademisches Untersuchungsteam der New Yorker Columbia Universität im Columbia Human Rights Law Review eine Studie über die Hinrichtung von Carlos DeLuna im Jahr 1989. Der Mann habe den ihm zur Last gelegten Mord nicht begangen; die Prüfung deckte grobe Ermittlungsfehler auf. Das Todesstrafen-Informationszentum in Washington führt gleich ein Dutzend Namen von Hingerichteten an, bei denen es große Zweifel gab. Beweisen lässt sich die Unschuld eines Hingerichteten viele Jahre danach jedoch selten. Die am Prozess beteiligten Richter, Staatsanwälte und Gutachter bauen Wagenburgen. Der Staat gibt seine Schuld höchstens zu, wenn die Hinrichtungen Jahrzehnte zurückliegen. So hat Bill Ritter, Gouverneur von Colorado, im Januar 2011 einen 1937 Hingerichteten posthum begnadigt. Der 23-jährige Joe Arridy war wegen Vergewaltigung und Mord verurteilt worden. Es gebe erdrückende Beweise für Arridys Unschuld, so Ritter, außerdem habe Arridy nur einen sehr niedrigen IQ gehabt und in der Todeszelle mit einer Eisenbahn gespielt.
Für William Henry Furman nahm die Sache kein glückliches Ende. Sein Todesurteil wurde zwar nach Furman v. Georgia in lebenslänglich umgewandelt und 1984 eine vorzeitige Entlassung verfügt. Doch im Häftlingsregister des Staates Georgia taucht Furman heute wieder auf, danach sitzt er im Georgia State Prison von Reidsville, dem Hochsicherheitsgefängnis für die „widerspenstigsten und aggressivsten Häftlinge“. Auf dem Foto der Behörde sind seine Haare grau. Entlassungsdatum sei der 30. März 2026. Furman wurde wegen eines Einbruchs im Jahr 2004 zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er soll die Tat gestanden haben.
Konrad Ege hat hier zuletzt über den Streik der US-Fluglotsen 1981 geschrieben
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.