Will Wooten macht weiter

USA Auf der Suche nach Occupy – ein Jahr nach der ersten Besetzung des New Yorker Zuccotti Parks und der Geburtsstunde einer neuen sozialen Bewegung
Die New Yorker Polizei verschafft sich Zutritt zum Zuccotti-Park
Die New Yorker Polizei verschafft sich Zutritt zum Zuccotti-Park

Foto: Spencer Platt / Getty Images

Occupy in den USA gibt es noch. Auch wenn die Romantik des Besetzens verblasst ist und so manches nicht geklappt hat. Occupy, dieses politisch-gesellschaftliche Experiment, hat das progressive Amerika belebt. Es ist August, und wir sind im Zuccotti Park von Manhattan. Auf diesem rund 3.000 Quadratmeter großen Steinplattenplatz mit ein paar Dutzend Bäumen, ganz in der Nähe der Wall Street, umgeben von Bürohochhäusern und Fast-Food-Buden, hat „alles“ vor einem Jahr angefangen, genauer am 17. September 2011.

Am Geburtsort von Occupy standen damals Zelte, hier hauten die Trommler auf ihre Instrumente, hier versammelten sich Tausende Hoffnungsvolle, hier tagten General Assemblies als Foren der unter die Räder gekommenen „99 Prozent“, die etwas tun wollten gegen die Macht und Arroganz des „einen Prozents“. Heute ist der Platz nackt. An die Bewegung erinnern die privaten Wächter in weißen Polohemden und die herumlungernden Polizisten. Die Beamten tragen keine Schlagstöcke, sondern zeigen Ortsfremden den Weg zur U-Bahn. Mehrere Parkbesucher wühlen in Abfallkörben nach Dosen und Wasserflaschen. Eine ältere Dame stochert mit einer Kochzange. Die von Occupy angeprangerten Zustände sind halt nicht zu übersehen.

Carter statt Roosevelt

Dutzende Camps sind nach diesem 17. September in den USA errichtet worden. Endlich, so schien es: Neuanfang nach den bleiernen Bush-Jahren und der Ernüchterung unter Barack Obama. Diese Aktivisten wollten es anders und besser machen als vorhergehende Generationen linker Aktivisten. Undogmatischer, kreativer, frei von Bindungen an Institutionen und Politiker – keine konkreten Forderungen stellen, sondern einen Traum entwickeln von dem, was sein könnte. „Das ist der Anfang der Revolution“ stand auf Postern. Occupy war ein Aufschrei zum Handeln für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit.

Die Bewegung habe die „Debatten in den USA verlagert auf Kritik an der Macht der Banken“, sagte Margaret Flowers, Ärztin aus Baltimore, monatelang Besetzerin in Washington und schon vor Occupy bekannt wegen ihrer Arbeit für eine nationale Krankenversicherung. Flowers spricht von Erfolgen: Vor Occupy habe es in der Politik in Washington überparteiliche Versuche gegeben, die staatliche Rentenversicherung und Sozialprogramme zu kürzen. Occupy habe geholfen, das zu kippen. Natürlich spiele das eine Prozent jetzt im Wahlkampf seine Macht aus. Es fließe mehr Geld als je zuvor, und der Präsident ziehe von einem Fundraising-Event zum nächsten.

Die Camps sind heute weg, zerschlagen von der Polizei, wie im Zuccotti Ende November 2011 bei einem brutalen nächtlichen Einsatz, zerbrochen an logistischen Anforderungen, taktischen Differenzen und zwischenmenschlichen Spannungen. Skeptiker wussten schon immer, dass das nichts werden könne mit diesen jungen Leuten. Die New York Times machte sich jüngst lustig über Occupy-Aktivisten im kalifornischen Oakland, der „letzten Zufluchtsstätte Radikaler“, wo der Reporter bei einem Meeting „kostenlosen Kaffee, Haferflockenbrei, Doughnuts, Flugblätter ... und haufenweise Marihuana“ gesehen habe.

Occupy heute ist nicht mehr das vom Herbst 2011. Will Wooten aus Texas pilgerte damals nach New York. Ein klassischer Occupy-Aktivist. Studium abgeschlossen, kein Job, enttäuschter Freiwilliger bei Obamas Wahlkampf. Er habe keinen perfekten Politiker erwartet, sagte Wooten. „Ich hatte Hoffnung auf einen Franklin Roosevelt, bekommen haben wir einen Jimmy Carter“, sagt er. Spätestens als Obama den polizeistaatlichen Patriot Act erneuert habe, sei klar gewesen, dass es „bergab gehen“ würde.

Nun, zurück in Texas, hält er Rückschau, hat einen langweiligen IT-Job, aber Geld für die Miete und zum ersten Mal eine Krankenversicherung. Die Occupy-Nationalversammlung im Juli in Philadelphia sei nicht so gut gelaufen, ebenso wenig der Protest im Mai gegen den NATO-Gipfel in Chicago. Aktivisten aus dem liberalen Spektrum hätten gewaltig unterschätzt, wie gewalttätig die Polizei sein könne. Das Ende der Camps sehe er mit gemischten Gefühlen. Ohne Camps sei man weniger sichtbar, doch habe man für die Camps 95 Prozent seiner Energie aufbringen müssen, um sie zu erhalten.

Wooten macht weiter, Camp oder kein Camp. Die Medien berichteten kaum mehr über Occupy. Aber Occupy habe der Linken Energie gegeben. Allein in dem nicht eben als progressiv bekannten Texas seien an die zehn Gruppen aktiv. In Houston unterstütze Occupy den Streik kläglich unterbezahlter Reinigungsarbeiter, er selber mache mit bei der Kampagne gegen die Keystone Pipeline, die aus Teersand gewonnenes Öl von Kanada nach Texas bringen soll, sagte Wooten. Dabei kämen gar Occupy und Tea Party zusammen: Occupy gehe es um den Klimawandel, der Tea Party um das Eigentum der Rancher, denen man Land wegnehme, um die Trasse zu bauen.

Veränderungen in den USA passierten im Schneckentempo, sagt Bill Dobbs, der bei der Occupy-Pressearbeit hilft. Occupys Kampf habe oft in dem Kampf bestanden, Protest überhaupt artikulieren zu können. Dobbs erinnert an die Massenverhaftungen auf der Brooklyn Bridge im Oktober 2011. Pfefferspray, Tränengas und Versammlungsverbote habe es gegeben.

Amin Husain, bis 2009 selbst Wall-Street-Anwalt, hat die allererste General Assembly im Zuccotti Park moderiert. „Wir konnten es nicht glauben, dass die Polizei uns nicht vertreiben würde“, erinnert er sich. „Die dachten, wir würden nicht bleiben.“ Frage an Amin Husain: Die meisten der 99 Prozent haben sich der Bewegung offensichtlich nicht angeschlossen. Die Ursachen seien komplex, meint Amin. „Aber wenn die 99 Prozent nicht mitmachen, ist das letztlich Occupys Versagen. Wir haben uns zu sehr mit uns selber befasst und nicht mit den 99 Prozent, die nicht im Park waren. Occupy wurde etwas Exklusives. Wir haben nicht mehr über das gesprochen, was wichtig ist für die 99 Prozent.“ Occupy habe zuletzt lernen müssen: Wie organisiert man, wenn man keinen zentralen Platz mehr hat? In New York engagierten sich Occupy-Aktivisten gegen Zwangsversteigerungen, gegen üble Vermieter und für Studenten, die sich Studiengebühren nicht leisten können. Schulden seien etwas, was die meisten der 99 Prozent verbinde. Auch gegen Polizeiwillkür in schwarzen und Latino-Wohnvierteln. Amin: „Man geht in die Communities hinein, wenn man keinen eigenen Platz hat.“

Eine zweite Welle

Etwa nach Greenpoint in Brooklyn. „The Peoples Puppets of Occupy Wall Street“ machen Straßentheater an einem heißen Augustsonntag. Sie geben ein Stück über einen bösen Riesen und einen jungen Mann, der sich entscheiden muss, ob er vom Riesen Gold annimmt oder mit anderen etwas gegen den Riesen unternimmt. Etwa 50 Leute schauen zu, viele Kinder. Morgan Jenness spielt die Freiheitsstatue. Sie habe sich Occupy angeschlossen, als sie einen Pfefferspray-Einsatz gesehen habe. Das System in den USA sei total korrupt. „Da lässt sich jemand in den Kongress wählen und kommt als Millionär wieder raus.“ Doch was solle sie tun als Bürgerin? „Ich kann doch nicht zu Hause sitzen und mir die Kardashians anschauen“ (Realityshow über Neureiche und Models).

Am ersten Jahrestag hat Occupy Wall Street Großes vor. Hunderte Leute organisierten etwas, sagt Amin Husain. Mehr als 60 kamen zu einem Vorbereitungstreffen Mitte August, mehr Männer als Frauen, mehr Weiße als Schwarze und Latinos. Die meisten zwischen Ende 20 und 40. Drei Tage sind geplant, mit Info-Veranstaltungen und Konzerten, dazu Blockaden in der Wall Street, am Montag, dem 17. September. Demonstrationsgenehmigungen würden nicht beantragt. Flugblätter verkünden, die Suche nach Ursachen sozialer Missstände führe zwangsläufig zur Wall Street.

Eines ist allen wichtig. Sie wollen die Aktion nicht als Unterstützung von Barack Obama verstanden wissen. Occupy wird deshalb beim republikanischen und demokratischen Parteikonvent in Tampa (Florida) beziehungsweise Charlotte (North Carolina) protestieren. Occupy-Aktivist Darrell Bouldin aus Murfreesboro in Tennessee – der Ort ist gerade in den Schlagzeilen wegen einer Hasskampagne gegen eine neue Moschee – wird in Charlotte nicht demonstrieren, sondern drinnen sitzen als gewählter Delegierter. Er habe Angst vor Mitt Romney. Obama würde wenigstens ein Minimum der Sozialgesetze erhalten und die Rechte Schwuler schützen. Für ihn als Betroffenen sei es eine besondere Freude, in Charlotte für ein Parteiprogramm zu stimmen, das sich erstmals für die staatliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen ausspreche. Der 25-Jährige schrubbt für acht Dollar pro Stunde Nachtschichten in einem Motel. Die Frau, die das Frühstück zubereite, verdiene noch weniger als er, aber sie werde Romney wählen, weil der gegen Abtreibung sei. Die Zukunftsangst sei groß bei vielen Bekannten in Tennessee. Einer lagere Munition.

Eines hört man immer wieder von Occupy-Leuten: Die Camps haben die verändert, die mitgemacht haben. „Das Gefühl, dass man sich mit anderen für etwas einsetzen kann, das bleibt“, sagte Bill Dobbs. Junge Amerikaner würden lernen, Widerstand zu leisten und das in einem Land, in dem sich Entrüstung oft auf Beschwerden über nicht gelieferte Bestellungen reduziere. Eine neue Generation von Aktivisten entstehe. Und Amin Husain hat Hoffnung auf eine „zweite Welle“. Zum Jahrestag stellt Occupy Wall Street einen Film ins Netz: Jeder müsse entscheiden, was er besetzen wolle. Zu Hause das Sofa oder in New York die Wall Street.

Konrad Ege schrieb vor einem Jahr die Reportage Besetzt die Wall Street

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