Zerrissener denn je

USA Der nächste Präsident wird mit den Wunden jahrelanger Spaltung zu kämpfen haben
Ausgabe 45/2020

Dass Wahlen in den USA nicht vorbei sind, wenn sie vorbei sind, ist keine umwerfende Erkenntnis. Sie korrespondiert Anfang November 2020 mit der Annahme: Weil es keinen klaren Wahlsieger gibt, der sich unanfechtbar durchgesetzt hat, wird das die Kluft zwischen den Lagern nochmals vertiefen. Donald Trump hat nicht nur die Karten, sondern auch die Fäuste auf den Tisch gelegt. Als Amtsinhaber sind ihm kaum Grenzen gesetzt, seine Macht auszuspielen bis hin zum Einsatz der Nationalgarde, um Unruhen einzudämmen. Überdies haben die Republikaner für den Fall einer Niederlage vorgebaut: Trump hat den Obersten Gerichtshof wie die Bundesberufungsgerichte mit vielen rechtskonservativen Juristen neu besetzt. Er sagt, es gab Wahlbetrug in den demokratisch regierten US-Staaten. Für Biden hat sich eine durch die Republikaner manipulierte Stimmung auf das Ergebnis ausgewirkt. Geht es allein nach den Wählerstimmen, liegt Biden klarer vor Trump, als das vor vier Jahren bei Hillary Clinton der Fall war. Auch das wohl eine Erklärung dafür, dass es so viele warnende Stimmen gibt, die Lage könnte außer Kontrolle geraten.

Unvergessene Bilder

Republikaner fühlten sich seit Langem verfolgt und betrogen vom „tiefen Staat“. Donald Trump hat vor dem 3. November stets behauptet, er könne nur verlieren, sollte bei den Wahlen betrogen werden. Er hat damit das liberale Amerika alarmiert, das in den Editorials beklagt: Noch nie sei die Nation derart gespalten gewesen. Trump habe so viel kaputtgemacht.

Doch so neu ist das Gespalten-Sein nicht. Die 1950er Jahre prägte die Hetze gegen vermeintliche und wirkliche Kommunisten. Es folgte die Auseinandersetzung um den Vietnamkrieg und die „Counterculture“, um die Studenten- und Frauenbewegung. Später gab es kaum Amerikaner, die keine feste Meinung zu einem Präsidenten wie Ronald Reagan (1981–1989) hatten. Und wenn man schon über Spaltung spricht: Bis in die 1960er Jahre hinein herrschte in vielen Teilen der USA ein der Apartheid vergleichbares System.

So richtig zur Demokratie wurden die USA ohnehin erst im Jahrzehnt danach, als unter dem Druck einer Protestbewegung neue Wahl- und Bürgerrechtsgesetze in Kraft traten. Zuvor konnte ein großer Teil der schwarzen Bevölkerung in den Südstaaten überhaupt nicht wählen. Viele Weiße haben dafür gekämpft, diese Zwei-Klassen-Gesellschaft zu erhalten. Das Gedächtnis speichert Bilder von gewalttätigen Protesten vor Wahllokalen und gegen jede Rassenintegration. Ein Echo dieser Zustände sind 2020 die vielen Wahlbehinderungen. In manchen Staaten diskriminieren Wahlgesetze noch heute Afroamerikaner.

Es führt kein Weg vorbei an der Rassendynamik. Seit den 1970er Jahren hat kein demokratischer Präsidentschaftsanwärter die Mehrheit der weißen Stimmen erhalten. Auf Trumps Wahlkundgebungen sah man fast nur weiße Gesichter. Trump schüre „Ängste vor schwarzen und braunen Amerikanern“, meinte Michelle Obama kurz vor der Wahl. Das sei rassistisch, bedeute aber nicht, „dass es nicht funktioniert“. Die Republikaner haben das Problem, dass der Anteil der Weißen an der Wählerschaft abnimmt.

Kaninchen und Schlange

Auch das religiöse Amerika ist gespalten. Laut Demoskopen des Pew Research Center wollten eine Woche vor der Abstimmung 78 Prozent der weißen Evangelikalen für Trump stimmen – schwarze Protestanten zu 90 Prozent und Latino-Katholiken zu 67 Prozent für Biden. Die am schnellsten wachsende „Religionsgruppe“ in den USA sind Menschen ohne religiöse Bindung: Die wählten mehrheitlich demokratisch.

In der letzten Phase des Wahlkampfes hat Trump seine Attacken auf das politische System der USA nochmals verstärkt und seinen autokratischen Anspruch verteidigt: Er sei der Einzige, der Amerikas Probleme lösen könne. Er dominierte die Medien, indem er mit Tweets und häufig unwahren Sprüchen die Themen vorgab. So kritisch und enthüllend die liberalen Medien auch berichteten – sie blieben durch Trump hypnotisiert wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange.

So leben die Amerikaner in vollkommen verschiedenen Medienwelten. Trump erntet bei seinen Leuten stets dann enthusiastischen Beifall, wenn er Journalisten beschimpft. Auch deshalb ist heute in den USA Realität nicht mehr gleich Realität. Im Wahlkampf hat Trump versichert, er habe das Coronavirus in Griff, während die Neuinfektionszahlen neue Rekorde aufstellten und manche Krankenhäuser warnten, sie kämen an das Ende ihrer Kapazitäten. Keine Frage, Corona hat Menschen auseinandergetrieben. Die USA sind bei 230.000 Toten angekommen. Ende Oktober lagen mehr als 47.000 Menschen mit Covid-19 in den Kliniken. Tendenz steigend. Und doch waren die meisten Republikaner der Ansicht, Trump mache seine Sache gut beim Kampf gegen das Virus. Seine Infektion machte ihn zum Helden: Er habe sich unter die Menschen gemischt, während Biden „im Keller“ saß. Bidens Leute waren entgegengesetzt motiviert: 82 Prozent der Demokraten sagten bei „Pew“, das Virus sei „sehr wichtig“ für ihre Wahlentscheidung.

Biden hatte erklärt, er wolle der Präsident aller Amerikaner sein. Ähnlich hat sich einst sein früherer Chef Barack Obama geäußert – mit überschaubarem Erfolg. Der alterprobte Politiker war nie der Wunschkandidat junger Amerikaner und progressiver Demokraten. Er versprach im Wahlkampf sowohl die Rückkehr zum Normalen wie einen Neuanfang. Ein Versuch, die widersprüchliche Koalition seiner Spender aus dem Silicon Valley, über demokratische Sozialisten bis hin zu schwarzen Kirchgängern unter einen Hut zu bringen. „Bei der Stimme für Joe Biden geht es nicht darum, ob du mit ihm einer Meinung bist“, so die demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die am Dienstag erneut in den Kongress gewählt wurde. „Es ist eine Stimme, um der Demokratie eine Überlebenschance zu geben.“ Aber die ist im Moment mehr infrage gestellt als gerettet.

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