Der American Federation of Labor - Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO) hat sich gespalten, 50 Jahre nach seiner Gründung. Das könnte ein radikalisierender Neubeginn sein oder ein Nagel im Sarg der stark angeschlagenen Arbeiterbewegung.
Aus Sicht des AFL-CIO-Präsidenten John Sweeney war es der totale GAU, der beim Gewerkschaftskongress Ende Juli in Chicago offenbar wurde: Vier Mitgliedsgewerkschaften verlassen den 13 Millionen Mitglieder starken Verband. Um "etwas Neues" zu schaffen und sich "auf die 90 Prozent der Arbeiter in Amerika zu konzentrieren", die derzeit nicht organisiert sind, erklärt Andy Stern, Vorsitzender der Dienstleistungs-Gewerkschaft Service Employees International Union (SEIU). Neben der 1,8 Millionen starken SEIU verabschieden sich auch die 1,4 Millionen Mitglieder zählende Transportgewerkschaft Teamsters, die ebenfalls 1,4 Millionen zählende United Food and Commercial Workers Union (UFCW) sowie kleinere Zusammenschlüsse. Drei weitere Gewerkschaften - die Farm-Workers, die Hotel- und Textilarbeiter sowie Laborers International (Baubranche) - stehen auf dem Sprung. Sie bleiben noch im AFL-CIO, gehören aber auch dem von der SEIU getragenen alternativen Dachverband an, der Change to Win-Kampagne (Verändern, um zu gewinnen). Springen auch die drei noch ab, verliert der AFL-CIO etwa 40 Prozent seiner Mitglieder.
Für den Vorsitzenden Sweeney sind die Abgänger nichts als "Verräter". In schlechten Zeiten müsse man zusammenhalten. Die "Abtrünnigen" argumentieren anders herum: Gerade wegen der schlechten Zeiten brauche man eine militantere Politik. Sterns SEIU gilt als Modell und hat als einzige Gewerkschaft zuletzt Hunderttausende von Mitgliedern dazu gewonnen. Und die Zeiten sind in der Tat schlecht. Die guten Stellen in der Auto-, Metall- und Stahlindustrie "verschwinden". Der Mindeststundenlohn stagniert seit sieben Jahren bei 5,15 Dollar - selbst bei Vollzeitarbeit nicht genug, um der Armut zu entkommen. Aber nur 13 Prozent der Arbeiter in den USA gehören noch einer Gewerkschaft an. Nimmt man allein die Beschäftigten auf dem "freien Markt" (und nicht die bei staatlichen Diensten und Firmen), sind es gar nur acht Prozent. So wenige wie noch nie seit den zwanziger Jahren.
Für John Sweeney ist die jetzige Sezession besonders bitter. Vor zehn Jahren wurde er nach erfolgreicher Arbeit in der SEIU zum AFL-CIO-Präsidenten gewählt, um den Dachverband zu reformieren. Und jetzt zerschlägt Andy Stern, sein Nachfolger in der SEIU, den ganzen Apparat. Change to Win legt ein ehrgeiziges Programm vor. Oberste Priorität sei Mitgliederwerbung. Besonders Teamsters-Chef James Hoffa kritisiert, dass Gewerkschaften den Demokraten Millionen "nachschmeißen", ohne viel dafür zu bekommen. Man müsse sich bei globalen gewerkschaftsfeindlichen Firmen wie Wal-Mart engagieren, die mit ihrer Beschäftigungs- und Lohnpolitik Arbeitern auch in anderen Unternehmen schadeten. Gewerkschaften müssten sich vereinigen, um alle in der gleichen Branche Beschäftigten zu vertreten: Das jetzige System, dass verschiedene Gewerkschaften Arbeiter in einem Betrieb repräsentieren wollten, sei längst überholt.
Neu sind diese Vorschläge freilich nicht. Der AFL-CIO bewegt sich schon seit mehreren Jahren in diese Richtung. Zu langsam, vielleicht. Aber wie ernst es der Verband meint, sieht man im Washingtoner Hauptquartier. Die Umleitung von Mitteln für die Reorganisation hat dort etwa einem Viertel der Angestellten den Job gekostet. So fragen manche Kritiker - auch von links - warum der innere Bruch plötzlich unabwendbar gewesen sein soll. Geht es hauptsächlich um persönliche Rivalitäten? Zumindest zwei der "Erneuerergewerkschaften" gelten als eher konservativ - die Teamsters und die Tischler. Auch die Bekenntnisse von Change to Win zu mehr Demokratie reflektieren nicht immer die innergewerkschaftliche Wirklichkeit. Die SEIU ist ein straff hierarchischer "Betrieb", der nach eigenem Selbstverständnis die Ellenbogen nach innen und außen so einsetzt wie die unternehmerischen Gegner.
Was daher manche Gewerkschafter vermissen, ist eine tiefgreifende Debatte über ihre Lage überhaupt. Mehr zu organisieren, das sei sicher wichtig, schrieben Kate Bronfenbrenner, Elly Leary, Bill Fletcher und andere Reformer, aber man müsse auch wissen, wohin man steuern wolle. Gewerkschaften könnten nur Erfolg haben, wenn sie Teil einer sozialen Bewegung seien.
Die Realität von heute unterscheidet sich zudem dramatisch von den Hochtagen des AFL-CIO. Im Kalten Krieg herrschte ein Konsens: Die Gewerkschaften identifizieren sich mit dem System und bekommen regelmäßig Lohnerhöhungen. Damals war es aus Sicht der meisten Syndikate und ihrer Führer nicht notwendig, das Zelt für Schwarze, Latinos und Frauen zu vergrößern. Das rächt sich heute. Besonders schlecht sind Gewerkschaften im Süden und Südwesten verankert - die Regionen mit zahlreichen schwarzen und hispanischen Arbeitern.
In einem Punkt hat der AFL-CIO in Chicago freilich seinen Reformwillen unter Beweis gestellt. Während des Kalten Krieges ein verlässlicher Parteigänger der US-Außenpolitik und danach halbherziger Advokat der Friedensdividende, hat sich der Verband jetzt erstmals für den Abzug eigener Streitkräfte aus einem laufenden Krieg ausgesprochen. Monatelang hatte es in Ortsverbänden geknistert: Bushs Irakpolitik sei nicht vertretbar, hieß es. Der Präsident habe die Öffentlichkeit "desorientiert" über die Motive des Krieges und die "Realitäten" der Kampfhandlungen. Und die AFL-CIO-Delegierten stimmten in Chicago überwältigend für einen Abzug aus dem Irak - für einen "rapiden Abzug".
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