Der lange Schatten von Potsdam

Potsdamer Konferenz Vor 60 Jahren trafen sich die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und beschlossen die Neuordnung des Kontinents. Damit begann auch der Streit um den Geist der Potsdamer Verträge

Jahr für Jahr strömen Tausende von internationalen Besuchern nach Potsdam - nicht nur wegen der Schlösser und Gärten, sondern auch wegen der Konferenz, die das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa markiert. Ihr Interesse gilt dem Cecilienhof, von 1913 bis 1916 im Stile eines englischen Landhauses erbaut, in dem die "großen Drei", Stalin, Truman und Churchill, im Juli 1945 verhandelten, um die Zukunft des alten Kontinents zu bestimmen. Zu DDR-Zeiten lebte das zu einem Interhotel verwandelte Gebäude von seinem verblichenen Charme, aber jetzt erstrahlt die Nobelherberge wieder in renoviertem Glanze. Mit der Wende hat sich auch der Tenor der Touristen-Führung gewandelt, denn sie feiert nicht mehr den Sieg der Roten Armee, sondern weist nun auf den repressiven Charakter des sowjetischen Imperiums hin.

Eigentlich war der Ort des Gipfeltreffens fast ein Zufall, denn es sollte "auf dem Territorium Deutschlands" in der "Umgebung Berlins" stattfinden. Weil die Reichshauptstadt selbst zu sehr zerstört war, gab Marschall Schukow als Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte den Ausschlag für Potsdam, denn dort konnte er besser die Logistik bereitstellen und die Sicherheit der Teilnehmer garantieren. Für die Delegationen wurden einige Kilometer vom Cecilienhof entfernt, am Ufer des Griebnitzsee, einige unzerstörte Villen reserviert, um eine ansprechende Atmosphäre zu schaffen.

Fliegender Wechsel

Die westlichen Teilnehmer waren allerdings nicht mehr die Staatsmänner, welche die USA und Großbritannien während des Krieges so erfolgreich geführt hatten. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt war im April 1945 gestorben, so dass der außenpolitisch unerfahrene und wegen seines kleinbürgerlichen Stils unterschätzte frühere Vizepräsident Harry S. Truman die US-Delegation anführen musste. Auch der imponierende englische Premier Winston Churchill, der die Vergrößerung der sowjetischen Macht in Osteuropa fürchtete, wurde mitten in den Verhandlungen von dem Labor-Führer Clement Attlee abgelöst, der die ersten Nachkriegswahlen gewann. Daher hatte der Generalsekretär der KPdSU, Josef Stalin, nicht nur den Vorteil des Gastgebers, sondern auch der größeren internationalen Erfahrung und administrativen Kontinuität.

Die kollidierenden Kriegsziele der von Hitler erzwungenen Koalition waren in einer Serie von vorausgegangenen Konferenzen notdürftig aufeinander abgestimmt worden. Während Großbritannien vor allem seine eigene Unabhängigkeit und seinen Kolonialbesitz verteidigen sowie das kontinentale Gleichgewicht wiederherstellen wollte, beabsichtigte die Sowjetunion das eigene Land von deutschen Angreifern befreien, künftige Attacken zu verhindern und ihre Einflusssphäre in Ostmitteleuropa zu sichern. Der USA ging es um die Wiederbelebung des Freihandels und die Stabilisierung Europas. Mit der Gründung der Vereinten Nationen unternahmen sie den Versuch, einen Dritten Weltkrieg zu verhindern. In Teheran und Jalta sowie in der European Advisory Commission in London hatten die Alliierten Kompromisse diskutiert, die einen dauerhaften Frieden garantieren sollten.

Die nach harten Verhandlungen erreichten Beschlüsse zur Zukunft Deutschlands zielten daher eher auf die Bestrafung der Nazi-Täter als auf den Wiederaufbau des besiegten Landes. Durch die Westverschiebung Polens und die sowjetische Annexion von Königsberg wurden die deutschen Ostgebiete bis zur Lausitzer Neiße der polnischen Verwaltung unterstellt, bis die Regelungen eines endgültigen Friedensschlusses griffen. Diese Gebiete sollten durch die Aussiedlung der dortigen deutschen Bevölkerung in "ordentlicher und humaner Weise" für die neuen Bewohner frei gemacht werden. Für die Reparationen von etwa zehn Milliarden Reichsmark hatten die jeweiligen Besatzungszonen aufzukommen, der am stärksten zerstörten Sowjetunion wurde etwas Hilfe aus den Westzonen zugestanden. Mit den drei "d", demilitarization, denazification und decartelization (Auflösung der Kartelle) sollten schließlich die Wurzeln des Nationalsozialismus ausgerottet und der Weg für eine spätere Demokratisierung (das vierte "d") freigemacht werden. Damit war die Hoffnung verbunden, Deutschland wieder in die internationale Gemeinschaft eingliedern zu können.

Weder die Lobpreisungen kommunistischer Kommentatoren noch die Verteufelungen westlicher Kalter Krieger werden der Bedeutung der Potsdamer Entscheidungen wirklich gerecht. Die damaligen Beschlüsse besiegelten die Niederlage Deutschlands in einem doppelten Sinne. Symbolisch signalisierte allein die Tatsache des Gipfeltreffens mitten im zerstörten Feindesland die Totalität des alliierten Sieges, denn kein noch so fanatischer Werwolf konnte diese Konferenz verhindern. Praktisch bedeuteten die Abmachungen nicht nur das Ende der Nazi-Herrschaft, sondern darüber hinaus die vernichtende Niederlage des deutschen Nationalstaates, die sich in den Gebietsverlusten, der Vertreibung, den Reparationen und der Übernahme der Souveränität durch den Alliierten Kontrollrat offenbarte. Ohne eigene Beteiligung an den Verhandlungen konnten die Deutschen nur ohnmächtig die Bestimmung ihres Schicksals verfolgen.

Das Potsdamer Kommuniqué kodifizierte den deutschlandpolitischen Minimalkonsens der Siegermächte, die durch rigorose Maßnahmen die Gefahr eines weiteren Angriffs dauerhaft bannen wollten. Dazu setzten sie nicht nur auf die Entwaffnung der deutschen Wehrmacht, sondern auf den viel umfassenderen Versuch einer sozialen und kulturellen "Entmilitarisierung", um die Besiegten nachhaltig zu pazifizieren. Auch verlangten sie eine energische "Entnazifizierung", das heißt die Entfernung aller Nationalsozialisten aus öffentlichen Ämtern und einflussreichen Stellen, um den Nationalismus dauerhaft zu unterbinden. Schließlich forderten sie die "Entkartellisierung" aller Wirtschaftsmonopole, die den Krieg materiell unterstützt hatten. Dieses Programm zielte auf nichts weniger als die Veränderung der gesamten politischen Kultur, die den Boden für eine spätere Rehabilitierung vorbereiten sollte.

Höhepunkt der sowjetischen Macht

Gleichzeitig markierten die Potsdamer Verhandlungen auch den Höhepunkt der sowjetischen Macht in Europa, denn es war die Rote Armee gewesen, die unter immensen Opfern der Wehrmacht das Rückgrat gebrochen hatte. Als Konsequenz aus der West-Entscheidung, zuerst den französischen Kolonialbesitz in Nordafrika zu befreien, dann Italien aus den Achsenmächten herauszubrechen und erst im Sommer 1944 in Frankreich zu landen, folgte die Befreiung Ostmitteleuropas durch die Rote Armee, deren Einfluss noch gestärkt wurde, nachdem die Westmächte einige eroberte Gebiete zugunsten Moskaus geräumt hatten. Churchill hatte diese Strategie von Anfang kritisiert, Roosevelt jedoch wollte die künftige Zusammenarbeit mit der Sowjetunion nicht gefährden.

Die Formelkompromisse der Potsdamer Verhandlungen verdeckten nur mühsam die ideologischen Differenzen und enthielten bereits die Keime des späteren Kalten Krieges. So bedeutete der Schlüsselbegriff "Demokratisierung" im Westen freie Wahlen, während im Osten damit die Herrschaft der Kommunistischen Partei gemeint war. In der Reparationsfrage wollten die Amerikaner nicht zu viel demontieren, weil sie fürchteten, die Deutschen sonst selbst ernähren zu müssen; die Russen dagegen bestanden aus verständlicher Notlage auf der Lieferung noch der letzten Eisenbahnschwelle. Schließlich veränderte sich die Machtposition während des Treffens grundlegend, denn mit dem Erfolg der ersten Atombombentests bekam Truman eine neue Trumpfkarte in die Hand, auch wenn der geheimdienstlich informierte Stalin jede sichtbare Reaktion unterdrückte. Der beiderseitige gute Wille, von dem der Kontrollrat als gesamtdeutsche Regierung abhing, war von Anfang an brüchig.

Interpretationsstreit

Vor allem funktionierte das Potsdamer Kommuniqué jahrzehntelang als eine Art Ersatzfrieden, weil alle Versuche einer umfassenden Friedenskonferenz für Deutschland scheiterten. Vor allem die Westmächte verstanden manche Entscheidungen wie die Grenzregelung als revidierbare Provisorien. Demgegenüber betonte die Sowjetunion den bindenden Charakter der in Potsdam verabredeten Grenzen, gleichsam die Gründungsurkunde der DDR als zweitem deutschen Staat. Immer wieder legitimierte sich die SED-Führung mit der Behauptung, sie würde die Potsdamer Beschlüsse nur konsequent umsetzen, während der friedliche Revisionismus der Bundesrepublik ihren Geist verletze. Moskau wiederum hielt den Ostblock jahrzehntelang mit Warnungen vor einem Bonner Revanchismus zusammen, denn die Gebietsgewinne Polens und der Tschechoslowakei beruhten auf Potsdamer Vereinbarungen. Dagegen versuchten die Westmächte im Kalten Krieg mit der Rollback-Politik zumindest verbal, die Potsdamer Ordnung zu revidieren und die sowjetische Kontrolle über die Satellitenstaaten aufzuweichen.

Erst der Umbruch von 1989/90 lässt die langfristige Bedeutung der in Potsdam getroffenen Vereinbarungen erkennen, weil er einige Teile bestätigt, andere wiederum verändert hat. So musste die Bundesrepublik in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen die in den Ostverträgen akzeptierten Gebietsverluste durch Anerkennung der Grenzverschiebungen und Vertreibungen endgültig ratifizieren. Ähnlich dauerhaft war der Versuch, die politische Kultur in Deutschland zu verändern: Die erweiterte Bundesrepublik ist alles andere als militaristisch oder radikalnationalistisch geworden, und sogar der wirtschaftliche Erfolg lässt zu wünschen übrig. Andere Aspekte der Potsdamer Neuordnung wie die Entmachtung der Wirtschaft durch Reparationen oder die sowjetische Hegemonie über Ostmitteleuropa haben sich dagegen als weniger beständig erwiesen. Kein Wunder, dass bei historisch so folgeträchtigen Entscheidungen wie dieser Konferenz die Erinnerungen konfligieren und die Debatte über ihre Auswirkungen auch über den 60. Jahrestag hinaus weiter gehen wird.

Professor Dr. Konrad H. Jarausch ist Leiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Lurcy Professor der University of North Carolina in Chapel Hill.


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