Am besten kommt man schon ein bisschen traurig nach Prag. An einem Herbstabend, mit dem Zug. Sitzt allein in seinem abgedunkelten Abteil, fährt durch die tschechische schwarze Nacht unaussprechlicher Orte. Sieht Hinterhöfe, Häuser, Wald, im Vorbeirauschen leuchten warme Fenster einsamer Existenzen, dann wieder Wald. Lässt so langsam diese Jahrhundertmelancholie in sich aufsteigen, deren Nachhall gewaltiger Tage im unwirklichen Gassengemenge der Goldenen Stadt keinen Ausweg finden wird.
Nächster Halt Prag, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. In der Nacht begegnen sich da verwitterte Statuen auf Brücken und erzählen mit steinernen Stimmen von den Jahreszeiten ihrer Geschichte, die oft Schmerz war und doch Leben ist. Ein ewig gotisches Organ mit tausend Türmen. Schwer und vor sich hin schlagend. Tausend Jahre Prag.
Seine Legenden hängen am Tropf der Moldau, die durch sein monumentales Inneres fließt, das oft geschlagen wurde und trotzdem gut gepflastert ist. Judenverfolgung, Prager Frühling. Kafka, Absinth und Karl IV., dreckiger slawischer Sex, all die Laster, die sich im Schatten großer Kathedralen verstecken, da wo die Laternen nicht mehr leuchten. Ich bin verabredet, mit Paul Leppin, Kundera, Egon Erwin Kisch oder Ernst Weiß im Café. Leppin, Wortführer der „Frühlings-Generation“ um die Jahrhundertwende, im Dienst der Post- und Telegrafendirektion stehend, bot mit der Herausgabe der lyrischen Flugblätter der jungen Prager Boheme – Oskar Wiener, Stefan Zweig und Rainer Maria Rilke – eine Plattform. Im Alter von 23 Jahren erschien sein Debüt Die Thüren des Lebens (1901), ein Roman der im Dirnenmilieu spielt. Das Bordell als Ort, der den vom Alltag ermüdeten Menschen die Flucht in das wahre Leben ermöglicht.
Mal sehen, wen ich im Café finde. Kafka ist sicherlich zu beschäftigt, er muss an Hauswänden hängen und die Namen von Plätzen und Museen tragen. Er wird nach wie vor von Verwaltung vergewaltigt, der Ärmste. Und Rilke, der Streber, geht nach 20 Uhr nicht mehr aus dem Haus. Ein Leben für die Verse. Donnerstagabend in Prag, die Rathausuhr schlägt, aber Donnerstag bedeutet in Prag kleiner Freitag und bis auf Rilke wollen die Tschechen immer etwas zu feiern haben. Vor allem im kalten November. Dienstags feiern sie, weil Dienstag ist, und Mittwoch, weil nach der Wochenmitte schon kleiner Freitag ist. Südländisch wird hier durch Slawisch ersetzt.
Die Frauen in den Cafés haben blasse, komplizierte Gesichter und dunkle Großstadtseelen, genauso wie auch das Bier. Sie hängen im Café Louvre an der Wand oder sitzen im Slavia alleine an Tischen, fangen deinen Blick auf, halten ihn fest und lassen ihn fallen. Surrealistisch, kalt. Alles menschliche Gebrechen weggeschminkt, hochgepuscht, retuschiert.
Karel Gotts Platten
Die Männer lassen sich das gefallen oder tragen große starke Platten, auf denen das dunkle Bier thront. Sie stellen es nicht, sie schmeißen es auf die Tische. Einer von ihnen macht es allen am Akkordeon. Gäste, die sich den Tourismus nicht verkneifen können, nehmen das auf. Ist wahrhaftig ein schönes Lied, ein trauriger Versuch von Freude. Ich weiß auch nicht, wie es heißt, aber ich frage nicht nach, lasse es klingen, ohne es einzufangen, abzuspeichern, Es ist schön, gerade wegen seiner Namenlosigkeit. Ich hoffe, dass mir das Lied eines Tages wieder irgendwo begegnet. Auf einer anderen Pragreise vielleicht, an einer anderen Straßenecke des Lebens im Schlosspark dieser Stadt, auf endlosen laubbedeckten Wegen.
Die touristischsten Gäste kennen den Schlosspark, die weniger touristischen kennen ihn auch und sie kennen die Bars und wissen, wo man unterschriebene Schallplatten von Karel Gott kauft, aber sie wissen nicht, wer da zerfällt in silbernen Särgen, wer dort wacht auf hohen Sockeln, einen goldenen Apfel in der Hand. Zerknüllen will ich ihre Stadtpläne von der Welt, vergessen alle Adressen, die ich mir von einem flüchtigen Fahrgast im Zug ins Notizbuch schreiben ließ. Lesen kann man die Namen der Kneipen, die er mir gab, aufgrund seiner äußerst tschechischen Handschrift ohnehin nicht. Es sind von diakritischen Zeichen gequälte Namen, sie beginnen unaussprechlich und hören mit -ku auf. „Schwer zu finden“, hat er noch gesagt.
Ob Leppin oder Max Brod, Werfel oder Kafka, man sucht sie vergeblich an Orten oder in Museen, denn sie verbringen die meiste Zeit in den Gesprächen der Leute und sind im Antiquariat oder geheimen Kellern zu Hause. Die Prager Nationalgalerie wäre ohnehin ein gruseliger Ort, sagte der Tscheche im Zug, die hätten zwar eine schöne französische Sammlung und tolle tschechische Werke, aber im Obergeschoss ginge immer noch das Gespenst des Kommunismus um.
Der Veitsdom sei eine Besichtigung wert, aber nicht im kalten November, nicht bei diesen touristenfressenden Anakondas, da können die Steine der Kathedrale die Schwerkraft überwinden, wie sie wollen.
Prag ist eine Stadt, der bunte Touristen und schlechtes Wetter nichts ausmachen, sie geht ohnehin nur in Schwarz-Weiß. Aber wann auch immer es in Prag kalt ist, und es ist oft kalt in Prag, steigt von der Moldau Nebel auf und hüllt die Menschen in Mäntel und die Stadt in einen gespenstischen Schleier, der sich schwermütig über alles legt und die Leute in die Bierstuben und Cafés treibt. Es ist ein Traum alter Tage, der sich dann in ihnen breitmacht und durch beschlagene Fensterscheiben auf das Trottoir der Seitenstraßen scheint. Drinnen Gelächter und volle Krüge, draußen gefrorene Stille, Laternen und ineinandergehakte schemenhafte Liebespaare. An den alten Theken unrasierte Männer in Cord, sozialistische Schriftsteller oder Männer, die mal sozialistische Schriftsteller werden wollten. Sie sitzen nicht, sie lehnen nur. Ihr Publikum besteht aus leeren Holzstühlen und speckigen Tischen, auf die seit Jahrzehnten Grillhaxe gestellt wird.
Synagoge, Särge, Stufen
Manchmal gibt der Wirt seinen Senf dazu, manchmal, meistens nicht, oder ein Dahergelaufener verfängt sich im Gerede über einmarschierte Russen und ermordete Nazis, die das Herz der Vielvölkerstadt alle nicht zum Erliegen brachten. Die Glut des intellektuellen Prags ist für sie nur noch Asche einer flammenden Jahrhundertwende, Rest eines Leuchtfeuers, auf der Suche nach ihrer verlorenen Zeit.
Sie sind die wandelnde Gegenwart einer Vergangenheit, an die sich viele kaum und ungern zurückerinnern, und wenn sie das tun, wenn sie sich genug erinnert haben, torkeln sie hinaus in die Nacht, halten sich an Straßenecken fest, an denen sich schon das Schicksal von Tausenden entschieden hat. Folgen wir ihnen!
Der Turm schlägt die vierte Stunde nach Mitternacht, finster wie vor der Erschaffung der Welt. Nur der Nebel ist schon da. Tonnenschwere Gebäude bauen sich plötzlich vor uns auf, Fenster, die viel gesehen haben, blicken mich mit schwarzen Augen an. Frauen eilen heim, Männer kaufen Döner. Absinth steigt mir zu Kopf und die Tore und Türme vereinen sich zur Kulisse eines surrealistischen Schauspiels. Eintritt frei. Und die Männer in Cord führen mich fort, vorbei am Four Seasons Hotel Prag und am Sexmaschinenmuseum, weiter bis zur Altneusynagoge, neben der die Legenden von Eduard Petiška in silbernen Särgen begraben liegen. Josefov, oder das, was von Josefov, Prags jüdischem Ghetto, übrig ist.
Durch enge schwere Gassen, Biergeruch in der Luft, die Stufen der Stadt hinunter, über die Brücke ans andere Ufer, vors Haus zum Weißen und Goldenen Einhorn, in dem schon Mozart und Beethoven residierten. Werden sie, die Männer in Cord, mir versteckte Schätze zeigen, geheime Keller oder lauernde Abgründe in Prags Unterbewusstsein? Ich hoffe auf Schenken ohne Fenster, die treppentief in die Erde führen, bis auf Augenhöhe mit den heiligen Leibern der Stadt.
Rauchen nicht erlaubt, und noch mehr Männer in Cord, die abgewetzte Gedichtbände von Kafka in den Taschen tragen. Schlecht gelaunt, geschieden, Fragen im Kopf, Antworten im Herzen. Sieh da, sie halten. Klopfen tatsächlich an die Pforte eines Ortes, den ich nur in unserer Fantasie zu finden glaubte. Knochen auf Holz, ich höre es hallen. Heimliches Licht fällt auf die stillen Wände. Eine Tür öffnet sich. Der Vorhang fällt – und alles ist anders.
Am nächsten Tag weckt mich der Kopfschmerz. Ein klarer Tag, spazieren im Park, dort unten liegt Prag. Ein letztes Gulasch vor der Abreise, Knödel, Rotkraut, Quark. Bloß kein Bier mehr. Was mit gestern nun noch war? Ach, komm her, schau es dir an und lies nicht darüber. Finde es selbst. Vergiss, was du weißt, zerknüll die Erinnerung. Lebe. Im Herz dieser Jahrhundertmelancholie versteckt sich Freude, wahre Freude und leider auch käufliche Freude, die nicht lange hält. Wer hätte wissen sollen, dass auch Männer in Cord ins Bordell gehen. Prag ist verdorben, wie in Leppins Roman, Prag ist kultiviert, das Menschliche liegt brach. Der Untergrund wagt sich ans Licht, für alle, auch für die, die Sätze von Kafka und Rilke in sich tragen.
Besäufnis, Junggesellenabschied, Sex, Goldene Stadt, Brücken, die sich für Instagram schön fotografieren lassen, verwahrlost, wie polnische Dörfer oder die ganze um Atem ringende Urigkeit Ungarns – all das ist Prag. Geheime Keller und mitgebrachte Traurigkeit, die sich hier löst, wie ein Knoten, eine Kopfschmerztablette. Der Zug fährt wieder durch den Wald, vorbei an Fenstern, Höfen und Häusern, dann wieder Wald. Und die Melancholie bleibt zurück, weil das die Stadt für einen übernimmt. Man kann sehr glücklich aus Prag kommen.
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