Pedro Miguel da Silva Duarte liebt die Menschen. Am liebsten hat er ganz viele. Der Festbeauftragte des Lissabonner Stadtteils Bica konnte es wieder gar nicht erwarten, dass sich, in einer heißen Juninacht, 5.000 von ihnen durch die Gassen vor seinem Büro gepresst haben, wie ein ins Leben wollendes Baby. Ganz Bica liegt am Hang, wie so vieles in Lissabons Altstadt, und auf der Calçada da Bica Grande geht es besonders steil hinab. Die Sprunggelenke standen auf Anschlag. Auf dem Plateau vor seinem Büro hatten sie den Kuchen verkauft und das kalte Bier. Sie hatten jemanden, der die Biermarken ausgab, und einen, der das Zeug ausschenkte. Die Sardinen haben aber weiter hinten gebraten. Wegen des Rauchs.
Er hat die Fische gerufen
Wenn in Lissabon der Jacaranda blüht, etwas Lilafarbenes, und die lila Papiergirlanden hängen, die Leute komische Sardinenmützen tragen, wird es eng, noch enger, am engsten. Von den 4,5 Millionen Lissabon-Touristen im Jahr kommen 500.000 von ihnen allein im Juni, um Santos Populares zu feiern. Ein jeden einzelnen Backstein verschlingendes Volksfest zu Ehren des Heiligen Antonius, des Schutzpatrons der Stadt. Antonius wird als katholischer Kirchenlehrer verehrt, obwohl er die meiste Zeit seines überlieferten Daseins in Italien verbrachte. Dort soll er ein hungerndes Dorf mit Fischen versorgt haben, die er aus dem Meer zusammenrief. Antonius brachte besagte Sardinen irgendwie zu den Portugiesen. Seit 1932 treten zu Ehren seines Todestages Lissabons Marschkapellen auf der Avenida Liberdade gegeneinander an. Das Viertel Alfama gewinnt fast immer, aber das sei Politik, so Pedro Duarte.
Laut den Touristenführern versteckt sich der traditionelle Geist der Stadt am liebsten in Alfama. Irgendwo in schmalen Gassen und konserviert im Fado. Die Touristenführer zeigen den Touristen, wo es langgeht, und „die Touristen“, also nie man selbst und immer die anderen, reduzieren die Stadt so auf ihre Sehenswürdigkeiten und Alfama. Das richtige Lissabon befindet sich für Pedro Duarte jedoch irgendwo dazwischen. Mit Alfama kann die Stadt international leicht für sich werben. Muss sie das überhaupt noch? 2013 waren es noch keine 70 Ferienwohnungen in Castelo, Mouraria und Alfama. Mittlerweile sind es über 5.000. Touristen, also Menschen, die Einheimische sehen wollen, leben Wand an Wand mit Einwohnern und zahlen in einer Nacht die Monatsmiete von einem Einheimischen. Seit Ende 2018 ist die Neugründung von Ferienwohnungen in Lissabon verboten, weil neun Touristen pro Einwohner diesen zu einer bedrohten Spezies machen. Trotzdem, die Dunkelziffer steigt immer weiter.
Im Gemeindehaus in Bica, dem Martímo Clube, sieht man das gelassen. Pedro Duarte holt die Pokale raus und zeigt auf die Bilder an den Wänden. Auf ihnen sind die Jahrgänge zu sehen, in denen sie gewonnen haben, und die Jahrgänge, in denen sie gewannen und trotzdem gegen Alfama verloren. Das ärgert Pedro Duarte, aber Groll hat er nicht. Von irgendwas muss die portugiesische Melancholie ja leben. Sowieso: Pedro Duarte ist stolz. Stolz auf die Pokale und seine gesamte Nachbarschaft. Erst letztens, bei den Bränden, hätten sie in zwei Tagen einen ganzen Laster mit Hilfsgütern klargemacht. Sie engagieren sich für Schwule und Lesben und kämpfen gegen häusliche Gewalt an Frauen. Auch das Mietproblem wird angepackt. Die Touristen wären nicht das Problem, so Pedro Duarte, das Problem seien die Vermieter. Sie warten, bis die Alt-Mieter endlich tot sind oder setzen sie noch lebendig auf die Straße. Viele der Vermieter sind selber Portugiesen. Das ärgert Pedro Duarte, denn er liebt die Menschen sehr. Er ist stolz darauf, dass Menschen verschiedenster Herkunft in Bica in Eintracht zusammenleben, und er wundert sich, warum der Rest der Welt das nicht kann.
Wieso über die Santos-Feiertage so viele Menschen nach Bica kamen? Na, weil das Herz in Bica bleibt, wenn es einmal in Bica gewesen ist, ruft einer, der im Martímo Clube vor einem Aschenbecher und einer Fernbedienung und einem Kreuzworträtsel sitzt. Damit ist eigentlich alles gesagt. Pedro Duarte grinst also, aber leider steigen vom Grinsen die Löhne nicht. Das Durchschnittseinkommen in Lissabon liegt bei 860 Euro, der Mindestlohn bei gerade einmal 600 Euro. Davon kann man in Bica gerade mal den Abstellraum einer Zweizimmerwohnung bezahlen. 62.000 ausländische Einwohner treiben die Mietpreise für 443.000 Lissabonner ins Unermessliche. 12,3 Prozent ausländische Einwohner ist für eine europäische Hauptstadt zwar verhältnismäßig, wohnen aber fast alle dieser 12,3 Prozent in den gleichen Innenstadtvierteln, beginnt sich das Kopfsteinpflaster abzunutzen. Dem Flughafen gehen sowieso schon die Landebahnen aus, auf den Speisekarten steht fast nur noch W-Lan, das alte gelbe Laternenlicht scheint auch bald alle. In der Innenstadt gibt es kaum Supermärkte, so viele Menschen wohnen hier. Aber Pedro Duarte liebt die Menschen, keine Ahnung, wie er das schafft. Was soll man denn auch machen, den Menschen sagen, dass sie nicht kommen dürfen? Um abzulenken, erzählt Pedro Duarte dann von tollen Begegnungen mit den Touristen und von berühmten Persönlichkeiten, die es über die Feiertage nach Bica verschlagen hat. Für sie hatte man extra eine kleine Sackgasse abgesperrt und ein paar Bierbänke mehr aufgestellt. Sogar einen Sicherheitsbeamten hatte man engagiert. Ansonsten kann das Fest aber ganz gut selbst auf sich aufpassen.
Trotz 500.000 Besuchern können sich viele von ihnen sogar noch erinnern, was überhaupt gefeiert wurde. Die Junimärsche sind kein Karneval. Das Wort Karneval ist im Martímo Clube verpönt. Denn im Gegensatz zu anderen Volksfesten dominiert immer noch Tradition statt Sauftourismus. Dafür haben vor allem die Alten gesorgt. Sie feiern traditionell natürlich mit, anstatt sich zu beschweren. Einen ganzen Monat lang. Sie stehen dann selbst am Grill oder verkaufen Kuchen oder sitzen auf weißen Plastikstühlen, wie man sie aus dem Schrebergarten oder von der Klagemauer kennt. Wenn sich einer über den Lärm beschwert, so Pedro Duarte, dann die Touristen. Was niemandem Kummer bereitet. Wenn einer singt, stimmen alle ein. Die meisten Texte sind herrlich unanständig. Sie erzählen von einem, der sich eine Ziege anschaffen musste, weil die Mutter zu arm war, um selber Milch zu geben.
Der Juni ist der beste Monat, schwärmt Pedro Duarte, man trinkt, man isst, man tanzt, und das alles unter einem südländischen Himmel, der frei ist, die Sicht versperrt eventuell eine lila Girlande, unter der man singt, und der Rauch. Denn während jener großen Juninächte kam man allein in Bica auf 2.000 gegrillte Sardinen. Das macht bei zwanzig Vierteln, mit einem Durchschnittsverbrauch von 200 kg pro Juninacht, eine ganze Menge Rauch, der sich wie ein Schleier aus gut abgehangenen Sehnsüchten steil über die Gassen legt. Halten wir fest, die Sardinen sind Pedro Duarte sehr wichtig, genauso wie die kunstvollen Papierblumen und die Tradition der Junimärsche. In diesem Jahr war das Thema aus Bica das Cais do Sodré in den 60ern. Damals, als das Hafenviertel noch Hafenviertel war und Prostituierte auf den hervorstehenden Balkonen auf die Seemänner warteten. Früher war mehr Sehnsucht. Heute stehen da Hotels.
2011 war Sardinennotstand
Und die Sardinen? Angelte man 2008 noch satte 100.000 Tonnen Sardinen aus dem Atlantik, sind es heute knappe elf Tonnen, 2011 gab es mal so was wie einen nationalen Sardinennotstand, erzählt Pedro Duarte. Die Portugiesen sollten den Sardinenfang für 15 Jahre einstellen. Von wegen. Man einigte sich auf geregelte Fangzeiten. Die Strafen auf illegalen Sardinenfang sind hoch. Pedro Duarte erschaudert förmlich, wenn er von Fischern erzählt, die alles verloren. Neuerdings erholt sich die Sardine und kommt mit der Fortpflanzung wieder hinterher. So hat der Fisch etwas Romantisch-Saisonales, denn nur Touristen essen Sardinen auch im Winter, und das sogar ohne Brot.
Was heißt eigentlich auf Portugiesisch Wermutstropfen? Die Menschen lieben Lissabon und das mit Lissabon verbundene Lebensgefühl. Sie nehmen ein Stück dieses Lebensgefühls für sich in Anspruch, ohne ein Stück zu diesem Lebensgefühl beitragen zu können. Dadurch steht Lissabon und das mit Lissabon verbundene Lebensgefühl kurz vor der Ausnutzung.
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