In den Echokammern des Politikbetriebes hallen sie noch, die Schlachtrufe des Wahlkampfes: „Echter Aufbruch“, „kein weiter so“, „Zeit für Veränderung“, so war es noch vor wenigen Wochen zu hören. Wenig später fanden sich die Konkurrent*innen zusammen, um Selfies zu machen und überraschend freundschaftliche Gespräche zu führen. Nach drei Sondierungsrunden steht nun ein Papier, das den unbedingten Willen zum Aufbruch und den höllischen den Durst nach Veränderung angesichts 16 Jahre Merkelei zum Ausdruck bringen soll. Es ist ein Leitfaden für politische Verblendung geworden. Lernen wir daraus.
Lektion Nummer eins: Olaf Scholz weiß: Wenn die Menschen unzufrieden sind, weil sie für ihre harte Arbeit zu wenig Geld kriegen, gib ihnen Respekt. Respekt ist kein materieller Wert, von Respekt kann man sich nichts kaufen – und überhaupt könnte Respekt auch alles mögliche bedeuten, vom Schulterklopfer bis zur Ohrfeige. Nun wissen wir endlich, was die kommende Bundesregierung darunter verstehen wird.
Statt den Hartz IV-Gesetzen, die seit nunmehr 16 Jahren Menschen in unwürdige Lebensverhältnisse zwingen und ihnen einen Ausbruch aus denselben bösartigst erschweren, kommt bald etwas ganz anderes: das Bürgergeld. „Das Bürgergeld soll die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein. Es soll Hilfen zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt in den Mittelpunkt stellen. An Mitwirkungspflichten halten wir fest und prüfen, wie wir hier entbürokratisieren können.“
Toll, oder? Arbeitslose sollen also auch in Zukunft erst einmal beweisen, dass sie überhaupt richtige Menschen sind, indem sie fleißig „mitwirken“, den unerträglichen und selbstverschuldeten Zustand ihrer Arbeitslosigkeit zu beenden. Sie sollen „zurückkehren“ in das richtige Leben, das der 40-Stunden-Woche, und zwar dalli, aber mit Respekt! Respekt in unbürokratischer Form: Womöglich können sich Arbeitslose in Zukunft über die anstehenden Gängelungen vom Amt einfach selbst online informieren. Das spart am Ende auch Porto und ist klimaschonend. Fortschritt!
Der Mietmarkt funktioniert hervorragend
Lektion Nummer zwei: Mieter*innen schaffen keine einzige neue Wohnung! Steigende Mieten waren eines der Top-Themen im Wahlkampf, und alle Beteiligten erklärten sich bereit, die Zustände in den meisten Groß- und immer mehr Kleinstädten abzumildern. Zustände, unter denen bereits jetzt viele Menschen ein Drittel bis zur Hälfte ihrer Einkünfte abgeben müssen Vermieter*innen ein weitgehend leistungsloses Einkommen zu bescheren.
Nun ist klar, wie das genau passieren soll: „Solange nicht genug bezahlbare Wohnungen gebaut werden, verhindert die Wohnraumknappheit vor allem in Ballungsgebieten, dass sich angemessene Mieten am Wohnungsmarkt bilden können. Daher werden wir die geltenden Mieterschutzregelungen evaluieren und verlängern.“
Lassen Sie uns kurz übersetzen: Es handelt sich bei explodierenden Mieten, Gentrifizierung und Verdrängung gar nicht um reale Probleme. Der Markt funktioniert hervorragend. Man lässt ihn nur nicht. Die neue Bundesregierung will sich daher vor allem im Wohnungsbau engagieren und „400.000 neuen Wohnungen pro Jahr, davon 100.000 öffentlich geförderte Wohnungen“ bauen. Zu welchen Preisen die dann vermietet werden? Sie stellen die falschen Fragen! Das regelt sich von allein, mit den bestehenden Gesetzen, die wir extra für Sie nicht verändern! Aber keine Angst: Auch den Räumungstitel können Sie in Zukunft bestimmt einfach elektronisch abrufen. Aufbruch!
Lektion Nummer drei: Keine Änderung ist auch ein Wandel. Beispiel Rente: „Es wird keine Rentenkürzungen und keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben“. Es ist nun nicht gerade so, dass die Wählerinnen und Wähler im Vorhinein nach Rentenkürzungen verlangt hätten, aber immerhin: keine Kürzungen. Schlimme Verhältnisse sind nicht mehr ganz so schlimm, wenn man sie als unumstößliche Naturverhältnisse darstellt. Auch das Renteneintrittsalter von 67 soll bleiben.
Aber kommen Sie nicht auf die Idee, Ihren Lebensabend in Ruhe zu verbringen. Lebenslanges Lernen ist angesagt: „Zur Unterstützung der lebenslangen Aus- und Weiterbildung wollen wir neue Instrumente einführen (…)“. Denken Sie bei „Instrumente“ bitte nicht an Klaviere und Gitarren, sondern eher an Skalpelle und Knochensägen. Wer rastet, der rostet! Das ist schlecht fürs ohnehin marode Gesundheitssystem. Und da die Rente so bleibt, wie sie ist (also: für die meisten Menschen irgendwo um das Existenzminimum), darf es auch im Alter keine Pause geben. Wer noch kann, muss ran. Für den Rest finden wir schon noch Migrant*innen, die unsere Kaputtgewirtschafteten zu Niedriglöhnen in den Tod begleiten: „Wir wollen mehr qualifizierte ausländische Pflegekräfte gewinnen und die nötigen Voraussetzungen dafür schaffen.“ Schluss mit weiter so!
Die Zumutungen des Neoliberalismus bleibt
Genug Zynismus. Diese Betrachtung des Sondierungsprogramms ließe sich an jedem einzelnen Punkt problemlos fortführen: Klima, innere Sicherheit, Außenpolitik. Alles bleibt so, nur wird es schneller, digitaler, kurz: einfach geiler verwaltet. Und natürlich wird es auch kein Tempolimit geben. Mit Vollgas Richtung Fortschritt!
Und klar: Eine Sondierungsverhandlung ist keine Koalitionsverhandlung, und eine Koalitionsverhandlung noch keine Politik. Nur eine Sache lässt sich aus dem vorliegenden Papier bereits gut herauslesen: Die Politik Angela Merkels, maßgeblich eine effiziente Verwaltung jener Prozesse, die im Wesentlichen der Markt und nichts als der Markt in Gang setzt, findet ihre Fortsetzung mit einem schicken Rebranding.
Wir können uns auf vier Jahre voller schöner neuer Wörter einstellen, an den realen Unzumutbarkeiten wird sich wenig ändern.
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