Die emeritierte Professorin Karin Richter und mich verbindet etwas, Richter forschte zur Kinderbuchliteratur der DDR, mein Großvater hat jene Literatur Zeit seines Lebens geschrieben. Wir trafen uns in einem Café in Erfurt, beide gerüstet mit einem Stapel Bücher, und sprachen über Kindheit im Osten, Ignoranz im Westen und Märchen, aus und über die DDR, anlässlich des Tags des Kinderbuches am zweiten April.
der Freitag: Frau Richter, die Kinderbuchliteratur der DDR könnte längst vergessen sein. Stattdessen wird sie neu aufgelegt, zum Beispiel im Leipziger Kinderbuchverlag leiv. Gibt es hier eine neu entflammte Nachfrage?
Karin Richter: Von „neu“ kann nicht die Rede sein. Leiv fühlte sich schon immer der Literatur des Ostens verpflichtet. Beltz hat wesentliche Teile des ostdeutschen Kinderbuchverlags Berlin übernommen. Da werden auch Kinderbücher aus der DDR neu aufgelegt – Das Wolkenschaf oder Hirsch Heinrich etwa. Deren Käufer haben meist einen ostdeutschen Hintergrund, verbunden mit Erinnerungen an die Kindheit, die ja oft weniger unglücklich war, als es nach der Wende dargestellt wurde. Andere Verlage besitzen die Rechte zur Veröffentlichung einzelner Autoren – wie der Eulenspiegel Verlag zum kinderliterarischen Erzählwerk von Peter Hacks. Zu diesem Thema fand erst kürzlich eine Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft statt. Aber angekommen in der gesamtdeutschen Kinderliteratur-Szene ist dieser außerordentliche Autor noch lange nicht, selbst wenn er kurz vor seinem Tode mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis geehrt wurde.
Woher kommt das?
Es ist zum einen das weitgehende Desinteresse der gesamtdeutschen Szene an der Kinderliteratur der einstigen DDR. Wenn ich es nur mal an Benno Pludra festmache, der Geschichten erzählte, die es so im Westen nicht gibt. Zum Beispiel Reise nach Sundevit oder Lütt Matten und die weiße Muschel. Bei letzterem arbeitet Pludra in einer realistischen Geschichte auch mit fantastischen Mitteln. Das ist toll erzählt und zeigt, welche Kraft in Kindern steckt. Diese Kraft ist bei Pludra immer das Thema. Die Erwachsenen lassen die Kinder oft allein, aber die Kinder entwickeln gerade in diesen Situationen eine enorme Stärke, obwohl auch ihre Verletzungen gezeigt werden. Bezogen auf die Reise nach Sundevit hat mich die missratene Besprechung einer sogenannten Wissenschaftlerin am meisten verwundert, weil ihre Aussagen zu den Grundzügen und zu Details des Kinderromans nichts mit dem tatsächlichen Text zu tun hatten. Es stimmte eigentlich nichts und erbot das Zeugnis der ‚Kunst des Überlesens‘. Und leider sind es nicht wenige westdeutsche Kinderliteraturwissenschaftler, die die Kunst des Überlesens beherrschen, allerdings ist ihr Desinteresse an dieser Literatur noch ausgeprägter.
Lassen Sie uns kurz rekapitulieren: In der Reise nach Sundevit möchte ein Junge in ein Ferienlager fahren. Er muss aber zunächst eine Aufgabe erfüllen, die das Vorhaben ins Wanken bringt. Zum Ende hin ist die Ausflugsgruppe schon abgefahren, er kommt zu spät. Sie haben mir die Besprechung im „Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur der SBZ/DDR“ von 2006 gezeigt, da heißt es: „Die moralischen Bewährungsgeschichten machen Gebrauch von einem Strukturschema, in dem ein junger tugendhafter Held unterwegs verschiedene Abenteuer und Begegnungen erlebt, in denen er sich sittlich zu beweisen hat. Die sozialistischen Normen kann er mit den eigenen Ansprüchen versöhnen und erntet schließlich gesellschaftliche Anerkennung. Die sozialistischen Bewährungsgeschichten machen sich zum Anwalt der moralischen Besserung der Gesellschaft.“
Aber der Protagonist Timm findet zu der Gruppe und – dieser Aspekt ist äußerst wichtig und wird im Text auch deutlich akzentuiert – er erfährt, dass diese bis zuletzt auf ihn gewartet hat. Schließlich kann er mit anderen gemeinsame Ferientage verleben. Darauf zielte der literarische Vorgang und nicht auf eine gesellschaftliche Anerkennung. Noch mehr hat mich in diesem „wissenschaftlichen Handbuch“ allerdings die „ideologische Gesamtschau“ irritiert, die vor dem ‚Darstellenden Teil‘ gleichsam das Bewertungsmuster für die Kinder- und Jugendliteratur der DDR vorgab, indem die Nähe der Kinderbuchliteratur der DDR zur NS-Kinderbuchliteratur postuliert wurde und die damit verbundene Absicht, die kindliche und jugendliche Individualität auszulöschen.
Zur Person
Prof. Karin Richter studierte Germanistik und Geschichte und arbeitete in der DDR als Lehrerin und Lektorin. Nach der Wende folgte sie dem Ruf der Universität Erfurt und war dort von 1993 bis 2008 Inhaberin der Professur „Literarische Erziehung/Kinder- und Jugendliteratur“
Wie kommen solche Besprechungen zustande?
Womit die Kritiker wahrscheinlich nicht zurechtkamen und -kommen, ist: Bei aller Konzentration der Erzähler auf das kindliche Individuum interessieren sich die Protagonisten nicht nur für die eigene Individualität. Das ist ein Unterschied zur westdeutschen Kinderliteratur. In den Kinderbüchern der DDR haben selbst die kindlichen Figuren immer auch das Allgemeinwohl im Blick, sie interessieren sich für die Probleme anderer, für das Funktionieren einer Gemeinschaft, sie bewegen nicht nur die Belange ihrer eigenen Persönlichkeit. Das ist gerade auch bei Pludras Protagonisten Timm der Fall. Die Aufgabe, von der Sie vorhin sprachen, muss Timm nicht erfüllen, sondern er möchte anderen einfach helfen. Das hat nichts mit Pionierauftrag zu tun.
Es wird überinterpretiert?
Ich würde eher sagen, es wird eine ‚Folie‘ vorgegeben, eine ideologisch präferierte Gesamteinschätzung dieser Literatur geboten und dazu muss dann jeder Text passen. Dann fange ich natürlich an, im Text Dinge zu sehen oder nach Aspekten zu suchen, die gar nicht in ihm vorhanden sind. Hinzu kommt auch noch, dass sich die geringe Wertschätzung dieser Literatur auch darin spiegelt, dass nicht ordentlich gelesen und akribisch analysiert wird.
Wie erklären sie sich das?
Ich glaube, das hängt mit der Entwertung der Literatur zusammen, die diesbezüglich stattgefunden hat. Ganz am Anfang, unmittelbar nach der Wende, war es für mich erstaunlich, dass ich sehr oft von Institutionen der alten Bundesländer wie eine Festrednerin eingeladen wurde und über die Kinder- und Jugendliteratur der DDR sprechen sollte. Alle waren erwartungsvoll.
Was wurde denn erwartet?
Man wollte einfach alles wissen: Was war das für eine Literatur? Da war am Anfang wirklich Neugierde. Es hat auch gemeinsame West-Ost-Tagungen gegeben – in einer ausgezeichneten Atmosphäre. Dann kam dieser Literaturstreit um Christa Wolf, der schwappte genauso über in die Kinderliteraturszene. Auf einmal war das Interesse an der Literatur weg und es ging nur noch darum: War dieser oder jener Autor bei der Stasi oder nicht? Das literarische Werk geriet dabei in den Hintergrund. Das heißt, der eigentliche literarische Gegenstand verschwand hinter dieser ideologischen Linie. Damit meine ich nicht, dass nicht auch Haltungen und Wirken innerhalb des DDR-Systems betrachtet werden sollten – aber eben nicht nur. Bei Otfried Preußler spricht man über sein literarisches Werk. Das Wirken seiner Familie und auch von ihm selbst im NS-Staat bleibt außerhalb der Betrachtung.
In welcher Situation fanden sich denn die Kinderbuchautoren selbst nach der Wende wieder?
Die haben zum Teil weiter geschrieben. Es ist erstaunlich, dass das ganz wenig wahrgenommen wurde. Zum Beispiel Pludra hat einen Text nach der Wende geschrieben, Jakob heimatlos, ein tolles Buch.
Worum geht es da?
Um die Situation nach der Wende. Hinter diesem Jungen, Jakob heimatlos, steht auch Pludra heimatlos. Es wird beschrieben, wie ein Junge völlig aus der Bahn geworfen wird, dadurch, dass der Vater arbeitslos wird. Es heißt, seine Stelle muss eingespart werden. Und dann sieht der Junge auf einmal, dass die Pförtnerloge des Vaters wieder besetzt ist. Es ist nicht eingespart worden, sondern der Vater musste raus, der Ossi musste raus und ein Wessi kam dafür. Deshalb wirft der Junge Steine auf die einstige Arbeitsstelle seines Vaters und er wird von der Polizei festgenommen. Es kommt zum Konflikt mit dem Vater, und der Junge wird zum Aussteiger. Das Buch ist von einer anerkannten Kinderliteraturwissenschaftlerin aus dem Westen besprochen worden, und ich habe angesichts des Inhalts dieser Rezension gedacht: Hat sie es nicht verstanden oder hat sie es nicht gelesen?
Was hat sie geschrieben?
Es sei ein typisches Muster der Kinderliteratur, die Ausreißer-Thematik. Das ist es auch, aber mit völlig anderen Hintergründen und Prägungen. Natürlich reißt Jakob aus, aber dieses Ausreißen hat ganz andere Gründe als Abenteuerlust. Die Literaturkritikerin meinte, das Ausreißen sei normal in dem Alter. Darum geht es aber in dem Roman gar nicht. Vielleicht wollte sie – wie es zuweilen in der DDR bei einzelnen Literaturkritiken der Fall war – den Text ‚retten‘, indem sie inhaltliche Elemente bewusst ‚übersah‘. Pludra hat in seinem Jugendroman Jakob heimatlos Erscheinungen der Nachwendezeit benannt, die wir jetzt nach 30 Jahren erstmals intensiver diskutieren.
Sie wissen, dass mein Großvater Joachim Nowotny selbst Kinderbücher in der DDR schrieb. Ich habe noch mal sein Buch „Der Riese im Paradies“ von 1969 gelesen. Das Buch ist von 1969 und es geht auch um Heimatverlust. Der Junge lebt in der Natur und ist dort gern für sich allein, dann wird ihm sein Paradies für den Bau eines Kraftwerks genommen. Das deckt sich nun überhaupt nicht mit der Erzählung der westlichen Kritik gegenüber DDR-Kinderbuchliteratur, die häufig davon ausging, dass solche kritischen Themen nicht stattfanden.
Weil sie die Bücher nicht kennen.
Mich hat interessiert, wie so ein Buch seitens der Lektoren wahrgenommen wurde, die ja in der DDR zu jedem Manuskript Gutachten schrieben, von denen eine Druckfreigabe abhing. Ich war erstaunt, als ich das Fazit der Lektorin im Archiv fand: „Joachim Nowotny zeigt eine Welt im Kleinen durch das Vergrößerungsglas, durch seine, durch des Schriftstellers Lupe, und siehe da: Es ist unsere Welt, es ist ein Stück unserer sozialistischen Entwicklung.“ Das ist doch bemerkenswert.
Man muss bei den Gutachten immer bedenken, dass es sich meistens um wohlmeinende Gutachten handelte. Die Kinder- und Drehbuchautorin Christa Kożik, die mit Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart eines der kritischsten Kinderbücher der DDR schrieb, hat im Gespräch mit mir betont, dass es im Rahmen der „Begutachtung“ kinderliterarischer Werke kaum „Bösachten“ gab. Das dürfte auch für das Gutachten zum damals übrigens sehr lobend aufgenommenen Buch Ihres Großvaters der Fall sein. Es sollte die Zensur-Behörde positiv stimmen. Kritische Stimmen zum Roman kamen von einigen, die meinten, das Buch stelle zu hohe Ansprüche an die kindlichen und jugendlichen Leser.
Sie haben mir im Vorfeld des Gesprächs mehrere Urteile westdeutscher Kinderliteraturwissenschaftler über die DDR-Kinderbuchliteratur zukommen lassen. Da heißt es etwa: „Die genuin sozialistische KJL (…) sollte, der NS-KJL ähnlich, die Heranwachsenden beeinflussen im Sinne einer literarischen Mobilmachung.“ und „Die Schaffung eines ‚neuen Menschen‘ gewinnt ihre spezifisch pädagogische Bedeutung (…) in der Auslöschung der kindlichen, bzw. jugendlichen Individualität zugunsten der ‚höheren Idee‘“. Das erscheint mir vor allem im Hinblick auf „Der Riese im Paradies“ Buch daneben. Der Protagonist hat dort eigentlich eine sehr ausgeprägte Individualität, eher sind es die Erwachsenen, die ein wenig defizitär erscheinen. Sie sind Trinker, jammern viel oder sind ausgemachte Griesgrame.
Dieses Bild des Erwachsenen findet sich seit den 70er-Jahren in vielen Romanen und Erzählungen. Und in diesem Bild liegt viel mehr Gesellschaftskritik als zumeist heute im Rückblick wahrgenommen wird. Während in den 50er-Jahren in der Kinder- und Jugendliteratur die Großväter für das zu überwindende alte Denken standen und die sozialistischen Umgestaltungsprozesse behinderten, sind nun die Großväter diejenigen, die noch die einstigen Ideale für den Aufbau einer neuen Gesellschaft in sich tragen und in diesem Sinne die eigentlichen Verbündeten der Kinder sind. Die Erwachsenenfiguren aus der Vätergeneration werden dagegen kritisch gezeichnet – auch aus dem genannten gesellschaftlichen Hintergrund: Ihnen sind die Ideale verloren gegangen; sie sind Anpasser, Pragmatiker, oft auch Figuren ohne Bezug zu einer Gemeinschaft. Dagegen sind – wie im Roman Ihres Großvaters – die Kindfiguren die Hoffnungsträger, die mit ihrer ausgeprägten Individualität einen Sinn für bedeutendes Wirken innerhalb und zum Wohle einer Gemeinschaft entfalten. Da gibt es auch Parallelen zu den literarischen Welten von Benno Pludra, Alfred Wellm und Christa Kożik. Diese Form der Zeichnung der Figuren aus verschiedenen Generationen als Ausdruck gesellschaftlicher Wandlungsprozesse gab es in der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur in dieser Form nicht.
Ist das ein Unterschied, der von den DDR-Autoren ganz bewusst so herausgearbeitet wurde, oder entstand das eher intuitiv, weil so eben die Welt funktionierte, in der die Autoren groß geworden sind?
Ich meine, so hat man gedacht. In der Zeichnung der Kindfiguren waren auch Elemente des ‚Mythos vom Kinde‘ enthalten, den wir aus anderen Epochen der Kinderliteratur kennen – man denke an E.T.A. Hoffmanns Das fremde Kind, an Johanna Spyris Heidi oder Michael Endes Momo – , aber in einer doch anderen Prägung. Das Kind wurde einerseits herausgehoben und in seiner ausgeprägten Individualität gezeichnet, und andererseits wurde es in soziale Kontexte eingebettet, zu deren Veränderung es wirken wollte. Diese besondere Form des Erzählens ist selbst in einem phantastisch-utopischen Kinderroman wie Peter Abrahams Der Affenstern erkennbar – und vielleicht ist es bezeichnend für die Unterschiede in der Sicht auf das Verhältnis Individuum und Gesellschaft, dass gerade der harmlosere ‚Vorgänger‘ von Abrahams Kinderroman Das Schulgespenst auch in der Bundesrepublik erschien, während der Fortsetzungsroman mit Sci-Fi-Elementen, die auf grundlegende Fragen unserer Welt in einem Weltraumabenteuer gerichtet sind, trotz ihrer innovativen erzählerischen Struktur und ihrer Attraktivität für junge Leser nicht den Weg in westdeutsche Verlage gefunden hat.
Wie können denn diese Bücher nicht wahrgenommen worden sein, sie wurden doch zum Teil sogar verfilmt?
Man hat auch die Filme kaum wahrgenommen. Ich weiß noch durch meine engen Kontakte zum Kinderkanal in dessen Gründungsphase, wie erstaunt die aus der Bundesrepublik kommenden Mitarbeiter über die Fülle der Kinderfilme waren, die in der DDR gedreht wurden. Zuerst suchte man danach, wo etwas erzählt wird, das zeitübergreifend in dem Sinne ist, dass das sogenannte „Sozialistische“ und vermeintlich „DDR-Typische“ nicht in den Vordergrund tritt. Natürlich konnte man die blauen Pionierhalstücher nicht wegretuschieren, aber dann war man erstaunt, dass die Geschichten in bemerkenswerter Weise von kindlichem Leben erzählten – wie etwa Kożiks Moritz in der Litfaßsäule. Andere Jugendfilme sind noch gar nicht entdeckt – wie die Verfilmung von Alfred Wellms Roman Pugowitza. Die DEFA-Verfilmung von 1981 ist jetzt wieder bearbeitet worden. Das Buch handelt von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. Einige westdeutsche Wissenschaftler, mit denen ich über den Roman und seine Verfilmung sprach, waren überrascht, dass in der DDR ein Buch erschienen ist, in dem dieser Heimatverlust reflektiert wurde. Auf ähnliches Erstaunen trifft auch die Tatsache, dass zu ganz verschiedenen Zeiten Geschichten über den Naturverlust – sei es durch den Bau von Kraftwerken oder den Abbau von Kohle – in der DDR geschrieben wurden, wie in den Werken Ihres Großvaters oder auch des Sorben Jurij Koch.
Kann denn die Kinderbuchliteratur der DDR heute noch von Kindern einfach so gelesen werden?
Ich meine, dass diese Literatur auch in der Schule eine Rolle spielen sollte, oder in der Öffentlichkeit. Vielleicht manchmal auch über den Film. Es hat wirklich interessante Filme, Erzählungen und Romane gegeben, die auch heutigen Kindern und Jugendlichen etwas erzählen können. Oft ist einfach der ‚Ansatz‘ für die Auswahl als Unterrichtsobjekt problematisch: Wähle ich einen Text, der erzählt, wie schön es in der DDR war und setzte noch meine Nostalgie dazu; oder wähle ich unter ideologischen Aspekten einen Text aus, um den Kindern zu zeigen: Das war die DDR mit all ihren Schattenseiten. Beides sind falsche Wege. Ich habe vor fünf Jahren Studierende verschiedener Lehrämter gefragt, ob sie im Rahmen ihrer Fachpraktika oder ihrer Masterarbeiten sich Texten aus der Kinder- und Jugendliteratur der DDR zuwenden und diese in Unterrichtsprojekten mit Kindern behandeln wollen. Es meldeten sich erstaunlich viele Studenten, die zunächst das Problem hatten, dass sie in den Texten nichts DDR-Typisches fanden, sondern ganz ‚normale‘ Erzählungen über kindliches Leben, Abenteuer von Kindern, Adaptionen mythologischer Literatur, Märchen und Phantastische Geschichten. Nachdem wir ihr Problem geklärt hatten, das auch das Problem der Darstellung des DDR-Lebens im öffentlichen und pädagogischen Rahmen spiegelt (man erwartete die Darstellung von Fahnen schwenkenden Kindern, von Appellen, von FDJ-Aufmärschen, vom Wirken von Pionierleitern und Parteisekretären etc.), entwickelten wir gemeinsam Literaturprojekte, die bei den Schülern auf Widerhall stießen und auch die Studierenden in ihrem Wissen um die DDR zu einem Gewinn führte, dieses an Einfalt verlor und damit auch Differenziertes, Widersprüchliches und Nachdenkenswertes sichtbar wurde.
Von den DDR-Kinderfilmen sind meistens aber nur die Märchenfilme bekannt.
Das ist richtig, aber damit kennt man noch lange nicht den Kinderfilm der DDR und auch nicht dessen Vielfalt.
Mögen Sie die Märchenfilme?
Sie sind von sehr unterschiedlicher Qualität, dazu hat auch meine einstige Mitarbeiterin Susanne Koschig, die jetzt Dramaturgin am Erfurter Puppentheater ist, in der Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur publiziert. Erstaunlich waren die hohe Anzahl der Filme und die Qualität der Schauspieler. Ebenso wie bei der Schallplattenproduktion waren die Akteure führende Theater-Schauspieler – etwa die des Deutschen Theaters in Berlin. Kunst für Kinder gab es in der DDR schon auf hohem Niveau, und von den führenden Akteuren der Augsburger Puppenkiste weiß ich, dass sie neidvoll auf das Niveau des Puppenspiels in der DDR und die Qualität der akademischen Ausbildung der Puppenspieler blickten.
Über Peter Hacks wurde später gesagt, er habe sich nie auf das Niveau der Kinder begeben, sondern wollte die Kinder auf sein Niveau heben. Ich ahne, was gemeint ist. Es gibt Kinderliteratur, die ist so kindisch gemacht, dass es einen selbst als Kind abschreckt.
Dieses Kindertümelnde, ja, das gibt es und das gab es zu allen Zeiten. Und Hacks hat eine wunderbare Literatur für Kinder geschaffen – vom Armen Ritter über Das musikalische Nashorn bis zu Meta Morfoß. Aber seine Äußerungen zum Poetischen Kind sind natürlich eher ein theoretisches Konstrukt als Widerspiegelung realer kindlicher Fähigkeiten und Begabungen. Für Hacks ist das Kind ein Modell, ein gesetztes Ideal, das ein wenig an Gedanken aus der Epoche der Romantik erinnert.'Ich glaube, dass man in der DDR viel Wert auf die Kunst für Kinder gelegt hat. Auch wenn es Erscheinungen gab wie Der kleine Kommandeur oder Die Störenfriede. Der Westen hat in manchen Debatten nach der Wende versucht, die KJL der DDR auf dieses Maß zu reduzieren, oft ohne Textkenntnis. Natürlich muss man auch sehen, dass die Kinderliteratur der 50er-Jahre eine andere war als die der 60er-, 70er- und 80er-Jahre. Und in den 50er-Jahren haben wir selbst bei Autoren wie Pludra oder auch bei Wellm die Idee, dass das Kollektiv dominiert und sich der Einzelne in dieses positive Gebilde einfügen muss.
Woher kommt dieser Wandel?
Die Idealisierung des Kollektivs in der Kinder- und Jugendliteratur der 50er-Jahre hat natürlich viele Gründe. Die Suche nach Gemeinschaft, der Weg in eine neue Gesellschaft, der ja zunächst ein Experiment war, bildete eine interessante Grundlage, die nicht wenige Menschen reizvoll fanden. Schließlich wurden auch auf Grund sozialer Erfahrungen die literarischen Welten differenzierter, vielschichtiger. Man nahm wahr, dass die Skizzierung des Kollektivs als etwas grundlegend Positives unkonturiert und partiell sogar hohl war und dass es eigenwilliger Menschen bedurfte, um eine Gemeinschaft voranzubringen. Der zunächst entworfene Blick auf das Kollektiv stellte sich als etwas Starres dar, das eine Veränderung erforderte.
Haben Ihre Studenten heute noch Interesse an der DDR-Kinderbuchliteratur?
Studenten sind für alle möglichen Themen offen, man muss sie ihnen nur so präsentieren, dass sie merken: Das ist etwas für uns. Wir müssen ihnen aber ein bisschen beim Entdecken helfen – und dabei entdecken wir oft auch für uns selbst etwas, was unser Nachdenken über Literatur und Kunst, aber auch über gesellschaftliche Zustände vergangener und gegenwärtiger Zeiten befördert.
Ich habe meine Zugänge zur Kinder- und Jugendliteratur der DDR nach der Wende eigentlich mehr als zwei Jahrzehnte ruhen lassen und mich anderen Gegenständen zugewandt: der internationalen Kinder- und Jugendliteratur, der Kinderliteratur der BRD, der Jugendliteratur, die sich mit dem Holocaust beschäftigt und vielfach auf authentischen Ereignissen beruht. Letzteres stand zudem im engen Kontext mit meiner engen Beziehung zu der bekannten Schriftstellerin und Übersetzerin Mirjam Pressler, die meinen Blick auf diese Literatur, auf die dahinter stehenden Ereignisse und aktuelle Erscheinungen des Antisemitismus schärfte. Die mit ihr gemeinsam gestalteten Seminare an der Universität Erfurt zeigten mir auch, wie man Studentinnen und Studenten für diese schwierigen Themen und die vielfältigen Formen der literarischen Gestaltung der jüdischen Thematik nicht nur interessieren kann, sondern sie zu einer Tiefe im Umgang mit diesem gesellschaftlichen und kulturellen Phänomenen führt, die für uns selbst und auch für Studenten zuvor nicht vorstellbar war. Auf diesem Erkenntnishintergrund möchte ich nun noch einmal eine Begegnung mit der Kinder- und Jugendliteratur der DDR im akademischen Rahmen gestalten: Gemeinsam mit einer Wissenschaftlerin der Universität Siegen werden wir an beiden Universitäten ein Seminar zur Kinderliteratur und zum Kinderfilm der DDR gestalten. Wir sind auf die Entdeckungen und Erkenntnisse gespannt.
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