„Ich werde älter“, ist einer dieser Sätze, der aus dem Mund einer 19-jährigen wie ein Vorwurf klingen kann. Im Falle von Billie Eilish, der US-amerikanischen Popsängerin und Songwriterin, die 2020 neben unzähligen anderen Preisen alle vier Grammy-Kategorien gewann – als jüngste Person und erste Frau überhaupt –, hat der Satz aber eine gewisse Berechtigung. Denn die Stadien, die junge Künstlerinnen und Künstler vor ihr in zehn Jahren durchliefen, absolvierte sie in zwei.
Happier Than Ever heißt das dritte Studioalbum, das die in eine Schauspielerfamilie hineingeborene Eilish zusammen mit ihrem älteren Bruder, dem mittlerweile ebenfalls zur halben Legende avancierten Songwriter und Musikproduzenten Finneas veröffentlicht hat. Und dieses Album fängt an mit einer deprimierenden Antizipation: „Die Sachen die ich mochte, halten mich jetzt nur noch beschäftigt. Die Sachen, nach denen ich mich sehne, werden mich eines Tages langweilen.“
Es ist dieser Sound des ‚frühen Spätwerks‘, der sich mit der gleichen düstersüßen Ironie durch das Album zieht, die schon auf dem Cover zu sehen ist: Die „glücklicher als jemals zuvor“-Billie sieht mit Tränen in den Augen einer leuchtenden Zukunft entgegen, die Erfolg verspricht, aber den Spaß an der Musik zur Arbeit verkümmern lässt. Noch im Juni 2021 unterstrich sie ihre persönliche Auslegung des Glücksprinzips in einem Interview mit der Vogue, für die sie sich in einem vieldiskutierten Look auf dem Cover zeigte. „Es geht immer darum, dass man sich gut fühlt“, meinte dort eine Billie Eilish, die für ihren Stilwechsel vom genderneutralen Trashpunk-Look zur hyperfemininen Pin-Up-Reminiszenz kritisiert wurde. Natürlich war das eine überwiegend hohle Diskussion, die allerdings eine interessante Frage aufwarf: Was ist, wenn „so sein, wie man will“ ungewollt zu einem „so sein, wie andere es wollen“ führt?
Für jemanden, auf dem mit 19 bereits der Druck von dutzenden Preisen und einer sich quasi über Nacht explosionsartig vermehrten Fangemeinde und Medienöffentlichkeit lastet, kein Aufreger mehr: „Manche Menschen hassen, was ich trage. Manche Menschen lobpreisen es. […] Provozieren dich meine Schultern, meine Brust? […] Der Körper, mit dem ich geboren wurde, ist er nicht was du wolltest?“, diktiert sie im schwebenden Not My Responsibility in der Mitte des neuen Albums.
In solchen Momenten wurde Eilish schon oft angedichtet, das Bewusstsein einer nachrückenden Generation konzentriert zum Ausdruck zu bringen: kompromissloser Individualismus, Abgeklärtheit und immer wieder das ironische Spiel mit Abgründen und dem Ende von allem, das schon auf When We All Fall Asleep, Where Do We Go? (2019)eine große Rolle spielte. Happier Than Ever fügt dem ganzen die Erhabenheit einer Frau hinzu, über die in knapp zwei Jahren mehr geschrieben und geredet wurde als über manch anderen während seiner gesamten Karriere.
Gefährliche Verletzlichkeit
Wie sehr ihr solche Prominenz ein reguläres Leben verunmöglicht hat, zeigte die im Februar veröffentlichte Dokumentation The World‘s A Little Blurry über jenen Star, der eben noch Demos im Schlafzimmer aufnahm und ziellos ins Netz stellte, um wenig später zur bisher jüngsten Interpretin eines Bond-Songs (No Time To Die) zu werden. Zwei Titel auf dem neuen Album heben besonders hervor, was es bedeutet, im Zuge der Selbstfindung gleichzeitig zur Projektionsfläche für Millionen zu werden: NDA, kurz für „Non-Disclosure Agreement“ (Geheimhaltungserklärung) erzählt von einer Liebe, die unter keinen Umständen öffentlich werden darf. Und im Latin-Pop-Arrangement Billie Bossa Nova singt Eilish tragikomisch: „Sperr lieber dein Telefon, und schau mich an, wenn du allein bist. […] Tut mir Leid, wenn das eine Tortur ist. Ich weiß, ich weiß.“
Sie gibt sich verletzlicher, aber selten, ohne selbst ein wenig Gefahr anzudeuten. Wie stark diese neue Billie Eilish sein kann, die sämtliche destruktiven Mechanismen der Musikindustrie und des Stardaseins wie ein schwarzes Loch zu verschlucken scheint, um daran zu wachsen, ließ sich im April beobachten:Your Power ist eine Ballade über sexuellen Machtmissbrauch, frei von jeder Ironie, die sich produktionstechnisch allein auf Eilishs spezielles Timbre verlässt. Im Video filmt eine Drohne die musikalisch und äußerlich verwandelte Eilish mit einer 36 Kilo schweren Anakonda, die sich in einer kargen Berglandschaft um ihren Körper windet. (Im Übrigen: Schlange „Archie“ war echt.)
Eilish, die in Interviews mehrfach angedeutet hatte, selbst Opfer von Missbrauch gewesen zu sein, haucht da in einer Strophe: „Behältst du die Kontrolle, wenn du sie im Käfig hältst? Und du schwörst, du wusstest es nicht, du dachtest, sie sei dein Alter.“, gefolgt von einem zentrierten „How dare you?“, das eine andere berühmte Teenagerin ikonisch werden ließ. Der schleichende Song arbeitet auf die Abrechnung hin, wickelt sich um die Kehle des anonymen Adressaten, greift aber nicht zu: „Try not to abuse your power“, versuch, deine Macht nicht zu missbrauchen. Die Künstlerin steht über dem Affekt und eignet sich so die gleiche Macht an, die der Täter gerade durch das Nichts-Sagen und Nichtwissenwollen entfaltet. Ihre fast geflüsterten Wörter sitzen wie Nadelstiche gegen einen Abwesenden.
Sie brauchte nie einen Künstlernamen
Von dieser herausragenden Qualität sind viele Songs auf Happier Than Ever, wenngleich nicht jeder eine derartige Wucht und Vielschichtigkeit entfalten kann. Insbesondere die minimalistischen Kompositionen sind oft sehr gelungen. Wie viel Kraft nicht das Herausstellen, sondern gerade das Weglassen entfalten kann, bewiesen die Geschwister bereits 2019 im zwischenveröffentlichten Everything I Wanted, einer Liebeserklärung Billies an ihren Bruder, die Rhythmik gerade durch das Fehlen eines „echten“ Beats erzeugt.
Diese Methode ist nicht revolutionär, beweist aber den unbedingten Willen, Eilishs Stimme zu jeder Zeit den größtmöglichen Raum zu lassen. Immer läuft dieses Vorgehen dabei Gefahr, ob der starken Präsenz von Billie, Billie und nichts als Billie auf Albumlänge manche Hörer*in zu ermüden. Es ist aber durchaus folgerichtig für eine Künstlerin, die nie einen Künstlernamen brauchte und zuvor immer belohnt wurde, wenn sie um sich selbst zirkulierte.
Happier Than Ever hat im Vergleich zum Vorwerk kaum Momente der Verspieltheit. Den teils sehr ernsten Anliegen des Albums verleiht eine kongeniale Produktion einen geradezu astralen Glanz, der alles, was aus Eilishs Organ entspringt, mühelos klingen lässt – bis hin zur Kopfstimme im Finale Male Fantasy.
Es ist zwecklos, diese Künstlerin in irgendeiner Form zu hypen, denn sie generiert ihren eigenen Hype so viel stärker als jede Plattenfirma, jedes lobende Wort von einem Weltstar, jede Kritik es könnte. Kaum zu glauben, dass Happier Than Ever dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit nur eine Etappe einer schon jetzt surrealen Laufbahn ist. Billie Eilish muss sich weitgehend kampflos ergeben, wer in Würde von Pop sprechen will.
Info
Happier Than Ever Billie Eilish Interscope/Universal Music 2021
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