Einsam verbunden

Debatte Linke Israelsolidarität ist eine ziemlich deutsche Besonderheit. Ist sie deswegen falsch? Zum schwierigen Verhältnis von Empathie und Identität
Wie staatstragend die deutsche Israelsolidarität sein kann, ließ sich am 20. Mai 2021 in Berlin beobachten, als sich Spitzenpolitiker*innen fast aller Bundestagsparteien zu einer Pro-Israel-Kundgebung versammelten
Wie staatstragend die deutsche Israelsolidarität sein kann, ließ sich am 20. Mai 2021 in Berlin beobachten, als sich Spitzenpolitiker*innen fast aller Bundestagsparteien zu einer Pro-Israel-Kundgebung versammelten

Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images

Es ist etwa drei Jahre her, da besuchte mich eine ehemalige Kommilitonin aus den USA in Berlin. Wir tranken Bier und aßen Pizza, redeten über Trump und Angela Merkel, Deutschland und die USA. Sie hatte an der New Yorker Uni, an der ich kurz studiert hatte, eine Gewerkschaft für studentische Mitarbeiter*innen mitgegründet. Die Hochschule galt zwar als progressiv, ein solcher Einsatz für Arbeitnehmer*innenrechte ist aber für amerikanische Verhältnisse beinahe linksradikal.

Nach einigen Bieren erzählte sie mir traurig, dass sie sich mit einem guten Freund gestritten hatte, es ging um Israel. Er sei dorthin gereist. Verdutzt fragte ich, wo das Problem liege. Die Antwort: „Why would you want to travel to Israel?“ – „Warum sollte man nach Israel reisen wollen?“ Ich war verblüfft. Am selben Abend erzählte ich ihr, dass es eine israelsolidarische linke Bewegung in Deutschland gibt. Sie war fassungslos.

In linken Kreisen der USA ist es so normal, das Land im Nahen Osten als „Apartheidstaat“, als Agent des westlichen Imperialismus, als koloniales Projekt, als Landraub und an sich genozidale Idee zu bezeichnen, dass all diese ziemlich heftigen Etiketten nicht mehr begründet werden müssen. Vielmehr sind es Schlagworte, die sich für jede Gelegenheit anbieten. So erinnere ich mich auch an eine Demonstration in New York City gegen Trump, kurz nach dessen Wahl 2017, zu der wie selbstverständlich Demogesänge über das Einreißen von Mauern „von Mexiko bis Palästina“ angestimmt wurden. Einige meiner Hochschullehrer, unter ihnen angesehene Professoren in Politikwissenschaften, stimmten mit ein. Trump hatte zu dieser Zeit politisch noch kaum ein Wort über Israel oder Palästina verloren. Die Palästinasolidarität war weitgehend von Inhalten befreit. Vielmehr diente sie dazu auszudrücken, dass man auf der „richtigen“ Seite steht, der Seite der Unterdrückten der Welt.

Das Spiel wiederholte sich auf dem bald darauffolgenden „Women‘s March on Washington“, immerhin eine der größten Demonstrationen in den USA seit den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Der Women‘s March wurde 2017 und 2019 unter anderem angeführt von Linda Sarsour, einer bekennenden Unterstützerin der Israel-Boykottkampagne BDS. Feminismus und Palästina, das ging für viele Protestierende nahtlos zusammen. Der Schluss zwischen diesen zwei auf den ersten Blick doch recht verschiedenen Sachen wurde so gezogen: Als Feministin müsse man gegen alle Formen der Unterdrückung von Frauen aufstehen, auch gegen die der israelischen Besatzer gegen Palästinenserinnen. Deswegen sollte sich jeder, der sich vom sexistischen Präsidenten gestört fühlt, ebenfalls von der israelischen Politik gestört fühlen. Am diesjährigen 1. Mai ereigneten sich in Deutschland ähnliche Schauspiele, unter anderem in Form der queerfeministischen Palästinasolidarität.

Mir schien der Zusammenhang konstruiert. Wieso muss eine Feministin überhaupt eine Meinung zu Israel haben? Und sollten Queers nicht vielmehr gegen die Hamas Partei ergreifen, die Homosexualität in den besetzten Gebieten unter Todesstrafe stellt, anstatt gegen das insgesamt recht queerfreundliche Israel? Vielen meiner Kommiliton*innen kam das jedoch überhaupt nicht schräg vor. Sie lasen die sozialistische Monatszeitung Jacobin und die linksliberale New York Times, sie mochten die Intellektuellen Noam Chomsky und Naomi Klein – und all jene waren selbstverständlich „gegen“ Israel und pro „free palestine“.

Nur in Deutschland?

Vielleicht war ich Opfer eines Phänomens geworden, das der Autor Fabian Wolff kürzlich in einem sehr langen Essay für die Zeit unter dem Titel „Nur in Deutschland“ zusammengefasst hat – noch vor den jüngsten Ausschreitungen im Nahen Osten wohlgemerkt. Nur in Deutschland, so Wolff, gäbe es unter Linken einen Israelfetisch, der sie dazu verleitet, dieses Land für irgendwie unterstützenswert zu halten. Und zwar so sehr, dass sie sogar Jüdinnen und Juden darüber belehren wollen: „Jüdische Pluralität wird in Deutschland attackiert, und zwar von denen, die sich als die größten Freunde der Jüdinnen*Juden gerieren.“

Der Text hat viele und emotionale Reaktionen hervorgerufen, von himmelhochjauchzendem Lob für die überfällige Anklage der vermeintlichen Besserdeutschen bis hin zur Ablehnung. Wolff konnte nicht wissen, dass sein Essay einige Tage nach der Veröffentlichung plötzlich noch aktueller werden würde. Ein neu entflammter Nahost-Konflikt brachte nicht nur die Menschen in Gaza und Israel in Lebensgefahr, auch auf den Straßen der Welt brach sich antisemitischer Furor Bahn. Im New York City – wo linke Student*innen es ethisch unzumutbar finden, auch nur einen touristischen Cent in Israel zu lassen – wurde die jüdische Community wochenlang täglich auf der Straße angegriffen und beschimpft.

Auch in Deutschland, Spanien, Großbritannien – in etlichen westlichen Staaten wurden, parallel zum neuen Gaza-Krieg, Jüdinnen und Juden stellvertretend für eine militärische Auseinandersetzung an einem ganz anderen Ort in der Welt verantwortlich gemacht, wurden Synagogen angezündet und Israelflaggen verbrannt. In Berlin-Neukölln trafen Feuerwerkskörper eine Journalistin auf einer propalästinensischen Demonstration, als diese dort Hebräisch sprach. Jüngst ereignete sich ein Brandanschlag auf eine Synagoge in Ulm. Viele Jüdinnen und Juden in Deutschland haben Israel noch nie besucht, geschweige denn es als notwendig erachtet, sich mit dem Land und seiner Politik zu identifizieren. Dieser Zusammenhang findet allein im Kopf des Antisemiten statt.

Die antisemitischen Straftaten wurden schleunigst verurteilt, hier und anderswo. So weit reicht die Empathie in der Regel. Dass aber „gegen Antisemitismus“ gleichzeitig „pro Israel“ bedeuten kann, das ist eine deutsche Besonderheit. Ist das verkehrt? Zeigen die genannten Taten nicht, dass man es sich zu einfach macht, wenn man sich freimütig gegen Antisemitismus ausspricht, aber aus der Israelfrage lieber heraushalten möchte?

Kommunistinnen neben Ministern

Wie speziell die deutsche Haltung zu Israel sein kann, ließ sich vor wenigen Wochen am Brandenburger Tor beobachten, als sich Spitzenpolitiker*innen fast aller Bundestagsparteien zu einer Pro-Israel-Kundgebung versammelten. Einige hundert Teilnehmer*innen begleiteten die Kundgebung, fahnenschwenkend, verhüllt in Israelflaggen oder in Anzug und Krawatte. Kommunistinnen applaudierten neben Bild-Reportern. Undenkbar wäre so eine Veranstaltung in Großbritannien oder den USA gewesen.

Für einige ein schauerlicher Anblick. Die Kundgebung bewegte unter anderem den israelischen Autor Tomer Dreyfus zum Austritt aus der Linkspartei. Seiner Meinung nach habe Dietmar Bartsch mit seinem Bekenntnis zu Israel demonstriert, dass er „die Lüge des ‚Rechts Israels auf Selbstverteidigung‘“ unterstütze. Ähnliche Streitereien, Positionierungen, Austritte, Anfeindungen finden seit Wochen nicht nur in den sozialen Medien statt. Wie konnte es so weit kommen?

Zunächst ein Zugeständnis: „Nur in Deutschland“, das ist keine reine Illusion. Aufgrund der historischen Genese kann einem die israelsolidarische Bewegung in Deutschland ironischerweise schrecklich deutsch vorkommen, selbst wenn sie noch mit dem Attribut „antideutsch“ umhergeistert. Es gibt aber einen fundamentalen Unterschied zwischen der Israelsolidarität von Frank-Walter Steinmeier oder Ulf Poschardt und einer linken, antifaschistischen oder gar kommunistischen Version davon. Er besteht darin, dass die einen die Notwendigkeit des Staates Israel „wegen“ Deutschland und die andere „gegen“ Deutschland begründen.

Die staatsmännische Israelsolidarität ist jene der großen Worte. „Tief betroffen“ ist man da häufig, wenn sich wieder ein „widerwärtiger“ Anschlag ereignet hat – und sonst nichts. „Verbundenheit auf Abruf“ nannte das der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, in der FAZ.

Die linke Strömung, welche sich hierzulande mit Israel solidarisiert, tut das hingegen in der Regel, weil sie den jüdischen Nationalstaat als notwendige Lehre aus dem Hitlerfaschismus begreift. Weil sie einsehen will, dass es einen Schutzraum für Jüdinnen und Juden so lange braucht, wie es Antisemitismus gibt und wie die Bedingungen weiter fortbestehen, die eine Shoah möglich gemacht haben. Sie begreift Geschichte als eine Aneinanderreihung von Fakten, die dieses möglich und jenes unmöglich machen können. Anders gesagt: Für sie ist Deutschland nicht fertig. Die Bestie schlummert nur. Realpolitisch verhindern kann die erneute Katastrophe daher nur ein Nationalstaat, in dem Jüdinnen und Juden immer sicher sind. Und das impliziert einen Staat, der im Zweifel wehrhaft ist.

Diese Strömung existiert seit den 90er-Jahren in subversiver Gestalt, manchmal in Form von autonomen Gruppen, Uni-Referaten oder subkulturellen Zentren, und sie ist, das zeigt die Aufzählung, alles andere als eine mehrheitsfähige Bewegung. Die Idee, dass „Israelkritik“ antisemitisch sein kann, wird hierzulande aber auch von manifesteren Institutionen wie der Amadeu Antonio Stiftung oder dem Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) geteilt. Zuweilen schwappt diese Position sogar in die kulturelle Sphäre über, wie sich etwa an der Kampagne „Artists Against Antisemitism“ zeigt, aber auch hier ist es eine Minderheitenposition.

Meinungsverstärker für Hetze

Viele dieser Gruppen und Institutionen unterscheiden sich von der staatstragenden Israelsolidarität, weil sie sich nicht auf Symbole und Festtagsreden beschränken, sondern Recherche und Aufklärung betreiben, und dabei häufig zu Ergebnissen kommen, die dem bürgerlichen Milieu in Deutschland ganz und gar nicht schmecken. Gleiches gilt für die Antisemitismusforschung, die freilich aus historischen Gründen in Deutschland so intensiv betrieben wird und wurde wie in kaum einem anderen Land, etwa am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin.

Diese Haltung unterscheidet sich auch vom tumben „Gegen Nazis“-sein, weil sie unter Antifaschismus statt einem symbolischen Statement eine konkrete politische Forderung versteht. Und sie unterscheidet sich von dem, was man im Axel-Springer-Hochhaus und bei der AfD unter „Israelsolidarität“ versteht – bestenfalls eine bestimmte Art und Weise, prowestlich und prokapitalistisch zu sein, schlimmstenfalls ein Meinungsverstärker für Hetze gegen Muslime, Migrant*innen, Geflüchtete. Diese scheinheilige Israelsolidarität und Antisemitismuskritik ist leer und kann sich daher gegen jeden richten, der nicht ins neoliberale Programm passt, so wie kürzlich bei der Publizistin Carolin Emcke geschehen.

Und dennoch: Für ihre proisraelische Haltung und antisemitismuskritische Arbeit werden Menschen nicht nur in Deutschland oft beleidigt und bedroht, denn wenn es eine Sache gibt, die Antisemiten wie Attila Hildmann mindestens genau so hassen wie Jüdinnen und Juden, dann sind es Deutsche, die sich mit letzteren verbünden. Sie wittern hinter jedem Nichtjuden, der sich proisraelisch oder antisemitismuskritisch äußert die „Israellobby“, weil sie sich schlicht nicht vorstellen können, dass Nichtjuden so etwas tun, ohne dass ihnen das Gehirn gewaschen wurde oder dass sie eine Gegenleistung erhalten haben. So lösen sie den Identitätskonflikt in ihrem Kopf auf.

Die Chefin der Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane, ist regelmäßig Ziel von Diffamierungen und Gewaltaufrufen. Der ehemalige Elitesoldat Franco A. soll einen Anschlag auf sie geplant haben. Fabian Wolff schreibt: „Es ist kein Tabu, Israel zu lieben, es erfordert in Deutschland keinen Mut, seine Unterstützung oder Solidarität mit diesem Land zu erklären“. Das mag auf die Israelsolidarität der Lippenbekenntnisse zutreffen, auf die praktische und antifaschistische tut es das nicht.

Linker Prozionismus war in Deutschland nie konsensfähig, nicht mal in den eigenen Reihen. Auch die antideutsche Bewegung hat bereits ihre Abspaltungsprozesse hinter sich. Wer sich dieses Etikett heute noch anheften will, darf sich seiner politischen Einsamkeit und seiner Feinde links, rechts und in der Mitte sicher sein. Wer es öffentlich tut, lebt zumindest potentiell gefährlich.

Dass sich die staatstragende Israelsolidarität mit den Erkenntnissen der Recherchestellen und der Antisemitismusforschung lieber nicht zu lang beschäftigt, ist derweil kein Zufall. Die Erkenntnisse sind schmerzhaft. Sie deuten seit Jahrzehnten daraufhin, dass es überhaupt keine Rolle spielt, ob jemand deutsch, jüdisch, arabisch, muslimisch, schwul, bi, trans oder vegan ist – denn Antisemitismus erwächst nicht aus diesen Zuschreibungen allein. Er erwächst aus einer bestimmten Art und Weise, die Widersprüche der modernen Welt aufzulösen, in der wir alle leben. Die naive Dichotomie – Unterdrückte gut, Unterdrückende schlecht – funktioniert dann nicht mehr. Und genau an diesem Punkt kommen sich gerade linke Bewegungen oft ins Gehege, insbesondere wenn sie Migrant*innen und Arbeiter*innen bedingungslos unterstützen wollen.

Die Publizistin Mirna Funk wies kürzlich darauf hin, dass junge progressive Bewegungen Jüdinnen und Juden sowie Israelis wieder als Unterdrückende wahrnehmen wollen, gegen die man ohne Bedenken hetzen kann. „Für viele Juden und Jüdinnen der jüngeren Generation“, so Funk, beginne eine „neue Zeitrechnung“; eine, in der ihnen klar gemacht würde, dass sie in Bündnissen wie der Migrantifa „nicht nur ausgeschlossen sind, sondern dort als Endgegner gehandelt werden.“

Klimaschutz und Palästina

Israel, das ist nunmehr seltener eine Sache von Inhalten, sondern häufiger eine von Identitäten. Egal ob man für Transrechte, Klimagerechtigkeit, bessere Löhne oder Tierschutz demonstriert – am Ende trifft viele Bewegungen die Frage, ob sie qua ihres Streits für „das Gute“ nicht auch die Palästinenser*innen mit verteidigen müssten. Diese Erfahrung musste kürzlich sogar Fridays for Future Deutschland machen, als ihre Mutterorganisation im Zuge des Gaza-Krieges plötzlich ihre Solidarität mit Palästina entdeckte: „Als Organisatoren der Klimagerechtigkeit rufen wir zum Sturz jenes Systems auf, das entrechtete Communitys geschaffen hat, das die Klimakrise hervorgebracht hat und das auf Kolonialismus und Imperialismus aufgebaut ist.“ Und weiter: „Unsere Herzen sind mit allen Märtyrern und den verlorenen Leben.“ Fridays for Future Deutschland distanzierte sich, erwartungsgemäß, von dem Statement.

Es ist Teil der Strategie von antiisraelischen Bewegungen wie BDS, jenen ein Statement zu Israel abzuringen, die vom Nahost-Konflikt weder etwas wissen noch etwas damit zu tun haben wollen. Und diese Strategie funktioniert, wenn der moralische Druck, der damit aufgebaut wird, groß genug ist. Dass sich diese Konflikte aber gerade jetzt und auf diese Art und Weise zuspitzen, hat noch einen anderen Grund. Mehr und mehr spielen identitäre Zuschreibungen eine große Rolle bei politischen Auseinandersetzungen. Das ist nicht per se schlecht, denn in vielen Fällen können sich marginalisierte Menschen überhaupt erst ein Gehör verschaffen, wenn sie sich zusammenfinden und auf ihr Recht pochen, gehört zu werden. Wenn das aber zu einer „Wer A ist, muss auch B denken“-Logik führt, wird es dumm.

Irgendwann scheitern all diese Diskurse an jener Sache, die Fabian Wolff in seinem Essay für bedroht hält: der Pluralität. Es gibt die „Juden in der AfD“, es gibt jüdische Holocaustleugner, rechtskonservative Israelfreunde und linke Antisemitinnen. Es gibt Muslime, die schwul sind und solche, die Schwule hassen; Feministinnen, die gegen die Prostitution sind und solche, die dafür sind. Es bleibt die Erkenntnis: Falsches wird nicht richtiger, wenn es vom Richtigen gesagt wird – und umgekehrt. Sprechorte können einer Haltung mehr Kraft verleihen, ein Gütekriterium für Wahrheit sind sie nie.

Das macht es kompliziert, aber das kann keine Ausrede sein. Es geht. Es ist möglich, sich aus einer antifaschistischen Haltung heraus solidarisch mit Israel zu zeigen, ohne sich mit jedem Schritt der israelischen Regierung gemein zu machen. Es ist möglich, das Leid der Palästinenser*innen im Gazastreifen und im Westjordanland ernst zu nehmen, ohne Jüdinnen und Juden in aller Welt dafür verantwortlich zu machen, ohne die antisemitische Propaganda der Hamas, der Hizbollah oder des Irans zu wiederzukäuen. Es ist kein Widerspruch, sich für Geflüchtete stark zu machen und auf Antisemitismus unter Migrant*innen hinzuweisen. Und es ist möglich, all das als jemand zu tun, der keinerlei identitären Bezug zu irgendeiner dieser Gruppen hat.

Identitäres Wettrüsten

Dass man damit gegebenenfalls auch gegen Jüdinnen und Juden in und außerhalb von Israel argumentiert, ist kein Widerspruch, sondern im Gegenteil: Es ist ein Indikator für eine politische Position, die unabhängig vom Sprechort funktioniert; eine Position, die kein „Als Feministinnen verurteilen wir“ oder „Als Deutsche müssen wir“ braucht, sondern für sich steht – wenngleich sie durch genau diese Reibung natürlich enorm auf die Probe gestellt wird.

Identitäres Wettrüsten („Aber ich kenne sogar einen Juden, der es so sieht!“) ist nicht nur ein würdeloses Schauspiel, sondern auch politisch und intellektuell unterfordernd. Und es ist ein bedauerlicher Punktsieg für alle Antisemit*innen, wenn die grundsätzliche Auffassung, Israel sei ein vernünftiges Projekt, mit der bedingungslosen Unterstützung der jeweils aktuellen israelischen Regierungspolitik gleichgesetzt wird. An dieser diskursiven Untrennbarkeit haben jene jahrelang gearbeitet.

Die Israel-Frage ist noch nie eine Ja-Nein-Frage gewesen, sondern immer eine Frage der Priorisierung und Differenzierung. Die israelische Soziologin Eva Illouz schreibt in ihrem Sammelband Israel: „Wenn der Zionismus ein gerechtes und universalistisches Projekt bleiben soll, müssen wir die Grenzen unserer politischen Imagination in beispielloser Weise erweitern. Um diese Aufgabe zu meistern, müssen Juden inner- wie außerhalb Israels mit der Unterstützung nichtjüdischer Philosophen und Aktivisten alle ihre Kräfte aufbieten – und aufhören, Schlammschlachten gegeneinander zu führen.“

Wenn sich Linkssein überhaupt auf einen Nenner bringen lässt, dann ist doch ein großer Teil davon die Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen und daraus politische Konsequenzen abzuleiten, gerade wenn man ihre Erfahrungen nicht teilt. Fällt das weg, bleibt nur eiskalter Liberalismus und damit Einsamkeit statt Solidarität: Jeder kümmert sich um seine Diskriminierung, jeder redet nur über das, was ihn selbst betrifft. Was Jüdinnen und Juden widerfährt, ist dann deren Problem – und die Deutschen sind fein raus. Diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Sie sollten nicht zurückkommen.

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