Erziehung in Auschwitz

Roman Yishai Sarid lässt seinen Helden zweifeln, ob der Holocaust wirklich als etwas Abgeschlossenes betrachtet werden kann
Ausgabe 13/2019
Das Monster der Erinnerung kann man immer noch besuchen, wie hier in Auschwitz-Birkenau
Das Monster der Erinnerung kann man immer noch besuchen, wie hier in Auschwitz-Birkenau

Foto: Christopher Furlong/Getty Images

Geschichten entwickeln Spannung, weil sie vom Anfang her erzählt werden und das Ende nicht ahnen lassen. Geschichte erklären wir vom Ende her. Das ist angenehmer, denn so bleibt man außen vor, beobachtet, analysiert, lernt. Man ist dann nie Teil dieser Geschichte, sondern immer schon schlauer als die, die sich historischer Verfehlungen schuldig gemacht haben.

Das ist besonders wahr für den Zivilisationsbruch des Holocaust. Den möchte man dringlich als historische Verfehlung sehen, empört sich, grenzt sich ab von „den Nazis“, den Umenschen. Wird diese Geschichte, was selten vorkommt, von ihrem Anfang her erzählt, wird sie noch unerträglicher. Denn der Unmensch sieht uns plötzlich ähnlich.

Yishai Sarid weiß das. Mit seinem neuen Roman gelingt ihm der Bruch mit dem Mythos von der abgeschlossenen Geschichtsschreibung – und von der abgeschlossenen Menschwerdung. Der studierte Jurist gehört zu den namhaftesten Autoren Israels. Monster heißt sein Buch nüchtern. „Monster der Erinnerung“ wäre die buchstäbliche Übersetzung des hebräischen Titels. Schon so lockt er den Leser in eine Falle: Erinnerung, da steckt das Abgeschlossene drin. Erinnern kann man sich nur an etwas, das vorbei ist.

Zunächst sieht auch alles danach aus. Sarid lässt seinen namenlosen Protagonisten eine Geschichte erzählen. Er ist Holocaustforscher, arbeitet an der bekanntesten israelischen Gedenkstätte Yad Vashem und leitet Touren durch die deutschen Vernichtungslager in Polen. Tagsüber führt er israelische Schulklassen durch die Orte des Grauens. Nebenbei schreibt er eine Dissertation. Er ist besessen von der Vernichtungsmaschinerie der Deutschen, untersucht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Lager, wertet Fotos aus, macht Ausgrabungen.

Sarids forschender Protagonist beginnt, die desinteressierten Kinder zu hassen, die er durch die Lager führt. Weil er sich selbst in ihnen wiedererkennt. Für die Nazis hingegen entwickelt er eine verstörende Bewunderung. Die schnittigen SS-Uniformen, die Gründlichkeit und „Innovationsfreude“ bei der Judenvernichtung lösen eine Art akademisches Stockholm-Syndrom aus. Dabei bleibt er so nachvollziehbar, dass der Leser langsam in die Falle geht. Das „Monster“, von dem auf dem Buchdeckel die Rede ist, das sind in Sarids Roman nicht allein die Nazis.

Hitlers brave Vollstrecker

Das Buch kreist um die zentrale Frage, die sich nicht nur der Erzähler, sondern später auch der Leser unweigerlich stellen muss: Bin ich eines dieser Monster, das mit genug äußerem Druck bereit gewesen wäre, massenhaft zu morden? „Ich weiß es nicht“, sagt der Erzähler in einer Schlüsselszene zu einer Schülergruppe. „Wahrscheinlich hätte ich Angst gehabt, und das bringt mich um, lässt mir keine Ruhe, denn das ist die einzige Frage, die wir uns als Menschen stellen können.“

Er entwickelt auch einen ausgeprägten Hass auf die unschuldige Erinnerung, die das Geschehene, auch wenn es mit jedem Besuch einer Gedenkstätte scheinbar näherkommt, nur weiter weg schiebt. Er reflektiert über die Jugendlichen: Die Rowdys sind ihm geradezu angenehm. Zwar missachten sie die Regeln und stören, „aber vielleicht würden sie“, so lässt Sarid seinen Protagonisten sinnieren, „dafür im entscheiden Moment – trotz entsprechender Befehle – auch nicht ihren Nachbarn denunzieren, was die braven Kinder sofort tun würden, weil bei ihnen Gesetz nun mal Gesetz ist“. Offenkundig hallt hier auch Adornos Erziehung nach Auschwitz nach.

Jetzt dämmert es uns: So, wie die Geschichte des Nationalsozialismus, die Geschichte des Holocaust, erzählt wird, abgeschlossen und erkaltet, so muss der Genozid unbegreiflich wirken, obwohl er es nicht ist. War es nur der Nazi-Mythos, der dazu führte, dass die Menschlichkeit in den Vernichtungslagern hingerichtet wurde? Nein. Es brauchte dazu Menschen, keine Monster. Das Buch konfrontiert den Leser mit der Frage, ob man selbst hätte sein können, was man so gern im anderen sieht. Wer Geschichte, wie Yishai Sarid, vom Anfang her begreifen möchte, muss bei sich selbst anfangen. Sein Roman nötigt den Leser dazu meisterhaft. Man möchte es nach der Lektüre jedem um die Ohren hauen, der meint, es sei genug mit dem Erinnern, mit dem Trauern, mit der Geschichte. Insbesondere sich selbst.

Info

Monster Yishai Sarid Ruth Achlama (Übers.), Kein & Aber 2019, 176 S., 21 €

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