Eben war Katrin noch erfolgreiche Unternehmerin, im nächsten Moment wurde sie zur Schwerverbrecherin. So kam es ihr zumindest vor, an dem Tag, als die Steuerfahndung bei ihr einrückte. „Zwölf bis fünfzehn Mann kamen in den Betrieb“, sagt sie, gleichzeitig wurde ihre Wohnung durchsucht. Katrin, Mitte 50, spricht Rheinisch, leise und ein wenig Stakkato. Sie dachte zunächst, es handele sich um einen Irrtum, einen Scherz. Aber es war kein Scherz: Kurz nach jenem verhängnisvollen Tag im September 2011 hatte sie zwei Verfahren am Hals, ein finanzrechtliches und ein strafrechtliches. Der Vorwurf: Betrug.
Katrin, die eine Druckerei betrieb, hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Ihre Steuern hatte sie bezahlt. Schuldnerin war sie ab diesem Tag trotzdem. Und ist es bis heute. Sie wurde Opfer eines Umsatzsteuerkarussells, einer komplizierten Betrugsmasche, bei der sich in einer Zuliefererkette aus mehreren Unternehmern schließlich eines aus dem Staub macht und ein anderes auf unbeglichener Umsatzsteuer sitzen lässt. Katrin war die Letzte in der Kette. Das Ausmaß: 165.000 Euro. In strafrechtlicher Sache sollte sie später freigesprochen werden, der Bundesfinanzhof blieb aber gnadenlos. Katrin muss zahlen.
„Ich habe drei Tage gebraucht, ehe ich meiner Mutter sagen konnte, dass die bei mir eingeflogen sind. Drei Tage!“, sagt sie. Sie musste Insolvenz beantragen. Ihr Konto wurde gepfändet. Sie verlor ihre Wohnung und alles, was von Wert ist. Eben noch Unternehmerin, saß sie nun vor einem Haufen Schulden. Und hatte sechs Jahre Insolvenzverfahren vor sich. Sechs Jahre Verzicht, sechs Jahre keinen Urlaub, sechs Jahre keine größeren Anschaffungen.
Heute kann Katrin über ihre Geschichte sprechen. Das Insolvenzverfahren hat sie bald hinter sich. Hilfe fand sie bei Attila von Unruh. Der 58-Jährige nickt, während sie ihre Geschichte schildert. Er hat eine ähnliche Tortur hinter sich. Auch er war einst erfolgreicher Unternehmer. Jahrelang leitete er ein Unternehmen im Event-Marketing. Dann verkaufte er seine Firma, verblieb aber zunächst als Bürge für den neuen Käufer. Als ein Auftrag des Käufers wegbrach, war er der letzte Dominostein in der Kette. Er musste die Zeche zahlen, während die Gäste längst die Bar verlassen hatten. Von Unruh suchte Hilfe und fand sie nicht. Also beschloss er, sie selbst zu schaffen.
Zwei Jahre nach Anmeldung seiner eigenen Insolvenz gründete er 2007 eine Selbsthilfegruppe, die „Anonymen Insolvenzler“. Der Name kommt nicht von ungefähr: Noch immer sind Schuldner mit einem Stigma behaftet. Wer sich verschuldet hat, hat sich etwas zuschulden kommen lassen. Der kann nicht mit Geld umgehen, hat „über seine Verhältnisse gelebt“. Arbeitgeber und Vermieter, aber auch Freunde und Bekannte rümpfen die Nase beim Stichwort „Insolvenz“. Deswegen möchte Katrin auch nicht mit ihrem richtigen Namen in der Zeitung stehen.
Das Stigma der Insolvenz zieht sich durch den gesamten Alltag. Niemandem sieht man die Überschuldung an, aber bei so gut wie jedem Zahlvorgang wird sie sichtbar. Von Unruh konnte nach Anmeldung der Insolvenz nur noch mit der zweiten EC-Karte seiner Ehefrau einkaufen gehen. Online-Shopping ist genauso ausgeschlossen wie der Abschluss eines Mobilfunkvertrags oder einer Versicherung. Die Schufa-Abfrage vollzieht sich in vielen Fällen unmerklich und sekundenschnell. Ärzte bekommen beispielsweise bei Abfrage der Kundendaten die Meldung, dass sie keine Rechnung ausstellen sollen. Von Unruh erzählt, wie er einmal mehrere hundert Euro beim Zahnarzt plötzlich bar bezahlen sollte. „Dann sah ich auf dem Monitor beim Zahnarzt die Meldung: nur Vor- oder Barkasse.“
Trau keinem Bankmitarbeiter
Diese Zeiten sind bei ihm vorbei. Er habe viele Fehler gemacht, etwa den, den Banken zu vertrauen. „Das würde ich heute keinem mehr raten“, sagt er. Kurz nach Beginn der Insolvenz wollte er ein neues Konto eröffnen: „Ich wollte mit offenen Karten spielen, die machen ja sowieso eine Abfrage. Also sagte ich: Ich bin im eröffneten Insolvenzverfahren und brauche nur ein Guthabenkonto, um meine Schulden zurückzuzahlen. Da stand der Bankberater auf und sagte“, von Unruh erhebt sich von seinem Stuhl und deutet Richtung Tür: „Gehen Sie woanders hin, wir wollen Sie nicht als Kunden haben.“
Von Unruh versuchte, sich nicht unterkriegen zu lassen. Er gründete seinen Gesprächskreis, zunächst, um sich selbst Hilfe und Beratung zu verschaffen. Aber wie findet man Schuldner, die in der Regel unter allen erdenklichen Radaren fliegen, für einen Gesprächskreis? Als er die Idee für die „Anonymen Insolvenzler“ hatte, ließ er von einem befreundeten Grafiker 250 Flyer drucken und verteilte sie. Sieht er heute seine alten Flyer an, schmunzelt er. Auf der Vorderseite findet sich ein Zitat: „Gerade als die Raupe dachte, die Welt ginge unter, wurde sie zum Schmetterling.“ Das Wort „Schulden“ taucht nicht auf. Von Unruh benutzt es auch heute selten. Lieber sagt er „zahlungsunfähig“ oder „von Insolvenz betroffen“. Es ist ihm wichtig, mitzuteilen, dass Verschuldung nichts mit Schuld zu tun haben muss.
Mittlerweile kommen jedes Jahr Hunderte Schuldner zu ihm und seinem Team. Die Gesprächskreise gibt es an 13 Standorten. Sie stießen auf einen riesigen Bedarf. Der vom Wirtschaftsforschungsunternehmen „Creditreform“ herausgegebene „SchuldnerAtlas“ zählte für das Jahr 2018 über 6,9 Millionen überschuldete Volljährige in Deutschland. Das ist knapp jeder Zehnte, junge Männer sind in der Statistik am häufigsten. Die diesjährig veröffentlichten Zahlen zeigen erstmals einen leichten Rückgang. Insbesondere die Altersüberschuldung hat sich aber stark erhöht. Die Zahl der Zahlungsunfähigen ab 70 Jahren stieg in den vergangenen zwölf Monaten um knapp 44 Prozent auf etwa 380.000. Vor allem steigende Wohn- und Wohnnebenkosten seien ausschlaggebend dafür, dass viele Menschen ihre Rechnungen nicht mehr zahlen könnten. Auch günstige Kredite macht Creditreform für Überschuldungen mitverantwortlich, sie führten viele in die Konsumverschuldung.
Die Anonymen Insolvenzler haben inzwischen einen gemeinnützigen, spendenfinanzierten Träger mit dem Namen „Team U“, sie beschäftigen viele Ehrenamtliche. 2010 gewann von Unruhs Projekt den „Deutschen Engagementpreis“, der unter anderem vom Bundesfamilienministerium gestiftet wird.
Das Büro von „Team U“ liegt in der Kölner Innenstadt, unweit des Rheinufers. Im Konferenzraum befindet sich ein Aufsteller mit einer Infografik. Eine U-förmige Kurve zeigt den Verlauf der Insolvenz. An der linken oberen Spitze steht die „Krise“, am Boden folgt die Insolvenz, schließlich geht es wieder aufwärts mit dem „Restart“. Von Unruh wünscht sich, dass die Menschen schon dann Hilfe suchen, wenn ihnen das Wasser noch nicht bis zum Hals steht. Unter dem Stichwort „Insolvenz“ steht noch ein weiteres: „Insolvenzvermeidung“.
Das klappt nicht immer. Oft siegen zunächst der Schock und dann die Scham. Aber die Fälle sind nie so holzschnittartig wie das Klischee. Hin und wieder, so von Unruh, erreichen ihn Medienanfragen. Zeitungen wollen Geschichten von Langzeitarbeitslosen, von Glücksspielern oder Drogenabhängigen. Die Realität sieht meist anders aus. „Wir haben hochkarätige Rechtsanwälte bei uns“, sagt er, „die durch die Insolvenz ihre Zulassung verloren haben.“ Zu den Gesprächskreisen kommen Menschen aus allen Schichten, nicht selten waren sie vorher erfolgreich oder arbeiteten in einer Branche, die vermeintlich vor „Fehltritten“ gefeit ist.
Sogar ein Finanzbeamter, der in der Vollstreckung arbeitete, suchte einmal Hilfe im Gesprächskreis. „Da dachten wir erst: Ups, der Feind!“, sagt von Unruh und lacht. In dem Fall hätten gesundheitliche, familiäre Gründe zu einer Insolvenz geführt. „Jetzt engagiert er sich ehrenamtlich bei uns und hilft bei Problemen mit dem Finanzamt.“ Es ist von Unruhs Mantra: Überschuldung kann jeden und jede treffen.
Schiefe Blicke, Absagen
Aus der Not wird in den Gesprächskreisen eine Tugend. Die Überschuldeten bilden einen Querschnitt durch die Gesellschaft ab, also landet im Gesprächskreis die geballte Expertise. Das ist auch bitter nötig. Schulterklopfer bringen die Betroffenen nicht weiter. Sobald sie ihre Situation begriffen haben, fangen sie oft an, wie Katrin, nächtelang das Internet nach Hilfe zu durchforsten. Paragrafen, Urteile, Beratungsangebote. „Ich wusste von all dem zu dem Zeitpunkt vielleicht ein Prozent“, sagt sie. Heute kennt sie die entsprechenden Gesetze, zitiert die Höhe des sogenannten Pfändungsfreibetrages auf den Cent genau: 1.139,99 Euro, so viel Geld dürfen Menschen im laufenden Insolvenzverfahren verdienen, ohne dass es ihnen direkt weggenommen wird.
Von Unruh sagt, die Verschuldung treffe manchen so hart wie eine Krebsdiagnose. „Darauf ist niemand vorbereitet. Man denkt immer: Das passiert mir nicht.“ Wenn es dann so weit ist, ist guter Rat – und Hilfe – teuer. Rechtsanwälte und andere Experten bieten zwar Unterstützung für Insolvenzler an, aber nur, solange es die Möglichkeit gibt, mit den Gläubigern zu verhandeln, das heißt nur so lange, wie sie ein Geschäft daraus machen können.
Die Betroffenen suchen aber nicht nur praktische Hilfe, sondern auch emotionale Anteilnahme. Mut gemacht haben Katrin auch die Geschichten von jenen, die den gleichen Horror verspürt und es letztlich geschafft haben, die die ersehnte „Restschuldenfreiheit“ erlangten. Bis es so weit ist, vergehen viele Jahre. Jahre der Demütigung, der Aussichtslosigkeit, der schiefen Blicke und Absagen. Katrin hat es fast geschafft, ihr bleiben noch zehn Monate im Insolvenzverfahren. Allerdings: Der Schufa-Eintrag bleibt dann meist noch weitere vier Jahre. Das erschwere den Neustart für insgesamt bis zu zehn Jahre. Von Unruh gibt sich diplomatisch: „Wenn ich eine Bank wäre, würde ich auch wissen wollen, ob jemand zehn Kredite hat platzen lassen. Dagegen ist nichts zu sagen. Wir sagen aber: Die Laufzeit von sechs Jahren im Insolvenzverfahren ist zu lang, und der Schufa-Eintrag sollte nach einem Jahr gelöscht werden, um den Betroffenen eine zweite Chance zu geben. Um neu starten zu können.“
Gemeinsam mit dem Deutschen Anwaltsverein, der Deutschen Schuldnerberatung und weiteren Organisationen strebte von Unruh daher im Jahr 2014 eine Gesetzesreform an. Politische Unterstützung fand er zunächst wenig. Sich für Schuldner zu engagieren, das zählt nicht zu den attraktiveren Wahlkampfthemen. Dennoch: Der Gesetzestext stand, die Insolvenzzeit sollte von sechs auf drei Jahre verkürzt werden. Ein Kompromiss, von Unruh hätte lieber ein Jahr gesehen. Eine Woche vor der Verhandlung des Textes im Jahr 2014 im Bundestag wurde er jedoch um einen Passus erweitert: Schuldnerinnen und Schuldner dürfen auf drei Jahre verkürzen – unter der Bedingung, dass sie die gesamten Verfahrenskosten und 35 Prozent ihrer Schuld auf der Stelle begleichen. Das aber ist unmöglich für so ziemlich jeden, der in einem derartigen Verfahren gelandet ist: Hätten die Leute derart Geld, wären sie ja kaum insolvent. „Die Banken- und Inkassolobby hat da Einfluss genommen“, sagt von Unruh.
Nach wie vor müssen Überschuldete also viele Jahre durch die Hölle gehen. So wie Katrin, die es nun fast geschafft hat. Knapp zehn Jahre sind vergangen, seit die Steuerfahndung in ihren Betrieb einrückte und ihr Leben jäh umwarf. Ohne die Hilfe von Attila von Unruh hätte sie aufgegeben: „Ohne Sie gäbe es mich nicht mehr“, sagt sie zu ihm.
Nachdem Katrin ihren Betrieb schließen musste, suchte sie nach einem neuen Job. Gegenüber ihrem neuen Chef habe sie gleich mit offenen Karten gespielt. Der zeigte sich wenig beeindruckt und entgegnete ihr, Katrin imitiert im kräftigen rheinischen Dialekt: „Mädsche, dat kann jedem passieren.“
Info
Dieser Text wurde erstmalig im Juli veröffentlicht und am 14. November 2019 um aktuelle Zahlen ergänzt.
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