Funktionsjackenpop

Musik Daniel Freitag komponierte jahrelang fürs Theater. Sein erstes Album ist ein missglückter Ausbruchsversuch
Ausgabe 44/2017

Für die neuere Popgeschichte war es ein Glücksmoment: 1996 beauftragte der Regisseur Baz Luhrmann die junge Band Radiohead, für seine Neuauflage von Romeo und Julia eine Filmmusik zu schreiben. Er gab ihnen die letzte halbe Stunde des Films als Anschauungsmaterial. Bandleader Thom Yorke zeigte sich begeistert von der Schlussszene, in der sich Claire Danes als Julia Capulet unter Tränen die Waffe an den Kopf hält und erschießt. Radiohead komponierten für den Abspann einen Song, der so gut gelang, dass er auf Wunsch der Band nicht auf dem Filmsoundtrack landete, sondern auf ihrem späteren Meilenstein-Album OK Computer.

Der Song hieß ganz funktional Exit Music (for a Film), „Abspannmusik für einen Film“, obwohl die Beteiligten wussten, dass sie große Popkunst geschaffen haben.

Üblicherweise sind Filmkomponisten eine Spezies für sich: Während andere Designermode entwerfen, machen sie Funktionskleidung. Dass Musiker einem Film die Musik auf den Leib schneidern, passiert öfter. Dass diese dann vom Film unabhängig zum Erfolg wird, ist selten. Dem französischen DJ Kavinsky ist das kürzlich gelungen. Sein Soundtrack zum Film Drive spielt nun auch in der Dorfdisco – so wie hin und wieder eine Funktionsjacke zum Modetrend aufsteigt.

Musik für den Rotweinabend

Daniel Freitag war bislang der Typ Funktionsjacke. Seit vielen Jahren schreibt er Theatermusik, zum Beispiel für die Berliner Schaubühne. Nun hatte er mit Anfang 30 genug davon. Für sein Debütalbum gab der Multiinstrumentalist die Theaterkomposition vorerst komplett auf und verschanzte sich im Tonstudio.

Herausgekommen ist das Debütalbum Still. Ist es ihm gelungen, den Spieß umzudrehen, vom Begleiter zum Leiter? Die dpa ist sich sicher: Man dürfe „illustre Namen“ bemühen, um Freitags Musik zu beschreiben, „die britischen Indie-Helden Radiohead“, zum Beispiel.

Indie – die Älteren werden sich erinnern: Das Genre hatte seine Hochphase in den 1990er und 2000er Jahren, Pete Doherty sang Fuck Forever, Engländer wollten noch Europäer sein und die Welt schien noch in Ordnung. Entgegen allen Prophezeihungen lebt Doherty noch, aber Indie ist so mausetot wie der europäische Hurra-Spirit.

Daniel Freitag unternimmt einen ambitionierten, jazzigen Reanimationsversuch, aber es nützt nichts: Das Herz schlägt gelegentlich, aber der Patient bleibt Still. Wo immer man hinhört: musikalisches Kammerflimmern, Hintergrundmusik für 30-jährige Pärchen, Rotweinabende in Berlin-Mitte – oder eben ein Schauspielstück.

Wie richtig man damit liegt, beweist Freitags Video zum Song Don’t: Darin wacht die Schauspielerin Sandra Hüller, die zuletzt in Toni Erdmann brillierte, in einer lieblos inszenierten Berliner Wohnung auf – Bierflasche links, Aschenbecher rechts – und muss ihr Talent hergeben, um bühnengerecht ein Festnetztelefon auf den Füßen zu balancieren. Kunst? Don’t!

Gegen Ende des Albums dann doch noch Theater: Come, Fear You Not, eine vertonte Shakespeare-Szene. Erinnert sich Freitag hier an das, was er am besten kann? Für einen Moment wird hörbar: Romeo und Julia, das hätte vielleicht geklappt. Still als Album hingegen klappt einfach nicht. Holt diesen Arrangeur liebevoller Begleitung also lieber schnell zurück ins Theater. Sonst schreibt er seine eigene Abspannmusik.

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Still Daniel Freitag Akkerbouw

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