Heimtückisch genial

Streaming Unserem Autor lässt der neue Charlie Kaufman-Film „I‘m Thinking of Ending Things“ keine Ruhe mehr. Spoiler-Anteil: 17%
Ausgabe 38/2020

Es gibt eine ganze Menge Filme, vor denen man warnen sollte. Weil sie eine schreckliche Zeitverschwendung sind, weil sie dümmer machen oder weil sie nicht einmal vernünftig zerstreuen. Und dann gibt es Filme aus der Feder von Charlie Kaufman, wie Being John Malkovich (1999) oder Eternal Sunshine of a Spotless Mind (2004), die ebenfalls nicht vorbehaltlos jedem zuzumuten sind. Aber nicht, weil sie schlecht gemacht wären, sondern weil sie den Zuschauer mit Fragen konfrontieren, denen besser nicht nachgeht, wer möglichst reibungslos leben möchte. Mit I‘m Thinking of Ending Things hat Kaufman einen Psychothriller von Iain Reid aus dem Jahr 2016 für Netflix adaptiert, wo er seit Anfang September zu sehen ist. Der Film hält sich zunächst stark an die Vorlage: Ein junges Paar, erst wenige Wochen zusammen, will den Eltern von Jake (Jesse Plemons) einen ersten Besuch abstatten. Auf der Fahrt durch das Schneegestöber denkt seine Partnerin Lucy (Jessie Buckley) allerdings darüber nach, die Beziehung zu beenden. Es wird eine erwartungsgemäß triste Fahrt.

Die ersten 20 Minuten des Films finden fast ausschließlich im Auto statt und beinhalten die enervierend lange Rezitation eines deprimierenden Gedichts und zum Teil nur assoziativ zusammenhängende Dialoge. Die Kamera hält den Zuschauer auf Abstand. Gerade als man sich fragen möchte, warum man sich auch nur noch eine Minute länger antun sollte, was schon das Paar im Film zu quälen scheint, beginnt ein Spuk. Angekommen in Jakes Elternhaus, verhalten sich die Alten äußerst merkwürdig. Schnell wird aus zunächst nur beklemmend schrägen Dialogen ein Massaker an Versatzstücken: Szenen reisen durch die Zeit und Personen durch verschiedene Versionen von sich selbst. Mal taucht ein Hund auf, dessen Asche später in einer Urne steckt; mal liegt die Schwiegermutter im Sterben, die am Tisch eben noch witzelte. Irgendetwas stimmt nicht, aber Lucy, Lucia, Louisa (so wird Jakes Freundin wechselnd angesprochen) kann sich keinen Reim darauf machen. Der Zuschauer erst recht nicht, er wird mit unüblichen Schnitten und wahnwitzigen Dialogen in die Irre geführt.

Die Figuren scheinen zu immer wieder anderen, quasi austauschbaren Charakteren zu werden. Der Kaufman-Kenner fühlt sich an andere Kaufman-Filme erinnert, bei denen ebenfalls die Frage zentral war, wie viel Mensch ein Mensch noch ist, der ein Anderer sein will. Oder wie viel freier Wille noch existiert, wenn eine Person nur die Summe ihrer Erfahrungen bleibt. I‘m Thinking of Ending Things ist aber in seiner Überfülle an Desinformation ziemlich weit davon entfernt, dem Zuschauer ein Deutungsangebot zu machen.

Gegen Ende bewegt sich die Geschichte immer weiter von einer linearen Erzählung weg und scheint sich mit einer Ausdruckstanzeinlage und einer Musical-Performance über den rätselnden Zuschauer geradewegs lustig zu machen. Szenen und Erzählungen verschwimmen wie in einer langsam verblassenden, traumhaften Erinnerung. Der Zuschauer scheint in Jakes Kopf gefangen, seinen Wünschen und Traumata ausgeliefert. Der ist durch all diese Erfahrungen hindurchgegangen – und nun sind sie ein Teil von ihm, gleichzeitig. Trotz Kaufmans phantasmagorischen Erweiterungen des Stoffs kommt das der Buchvorlage bemerkenswerterweise wieder sehr nah.

Das kann jene durchaus ratlos machen, die von einem Film Lösungen erwarten. Es sind jedoch vor allem die sprechenden, absurden Details, die den Film für den unversiegelten Geist anregend machen. Jake und seine Freundin führen Dialoge, die vom unerträglich Cineastischen ins unerträglich Menschliche gleiten. Sie verwandeln sich in etliche Persönlichkeiten, spielen großartig die leidige Erfahrung zweier Menschen, die von sich selbst entfremdet sind. Wohl nicht ganz zufällig – oder: zu allem Überfluss – erhält der Zuschauer noch Kurzeinführungen in Guy Debords Gesellschaft des Spektakels, in die theoretische Physik und in die Filmkritik (!).

I‘m Thinking of Ending Things ist deshalb ein Geniestreich im Wortsinne, einerseits genial, andererseits heimtückisch. Trotz all der beängstigenden Unklarheit wird das Nachdenken über diese 134 Minuten nicht langweilig. Es schleicht sich die Ahnung an, dass sie auch nach wiederholtem Sehen schlaflos machen – ein Effekt, der durchaus verstören kann, den letztlich aber nur ganz, ganz wenige Filme auslösen können.

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