Hexe wirkt

Fülle Die Grimmwelt Kassel bringt Geflüchtete zum Erzählen
Ausgabe 44/2018

Geredet wird am laufenden Band, aber Kommunikation ist unwahrscheinlich. Für diese scheinbar paradoxe Feststellung ist der Soziologe Niklas Luhmann in akademischen Kreisen bekannt. Geflüchtete, die während der vergangenen drei Jahre nach Deutschland gekommen sind, dürften sie nachvollziehen können. Von Luhmann müssen sie dafür keine Seite gelesen haben.

Wenn der Migrationsdiskurs von einer Sache deutlich dominiert wird, dann vor allem davon, dass „über“ Geflüchtete geredet wird. Als Projektionsfläche für politische Empfindungen sind sie hochwillkommen, selbst erzählen dürfen sie nur ausgesprochen selten. Genau dieses Problem nahm sich ein Kollektiv aus Künstlern, Gestaltern, Kuratoren und – natürlich – Geflüchteten zu Herzen. In Zusammenarbeit mit der Grimmwelt Kassel, einem Ausstellungshaus in der Wirkungsstadt der Brüder Grimm, erarbeiteten sie eine Box mit Arbeitsmaterialien, die die Verständigung über die Grenzen von Sprache hinaus ermöglichen sollen.

Was haben nun die zwei weltbekannten Sprachwissenschaftler Jacob und Wilhelm Grimm verbrochen, dass sie knapp 200 Jahre nach der Erstveröffentlichung ihrer Kinder- und Hausmärchen erbarmungslos in den Kontext einer der hitzigsten Debatten des jungen 21. Jahrhunderts gezogen werden? Der Zusammenhang wirkt nur auf den ersten Blick konstruiert. Jacob und Wilhelm stellten ihre Märchensammlung nicht aus nostalgischen Gründen zusammen. Sie wussten, dass in Mythen auftretende „Narrative“, wie man sie heute reichlich postmodern nennt, universell sind: der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, der Triumph der Liebe über das Materielle, die gerechte Strafe für Gier und Unaufrichtigkeit.

Muss es immer Sprache sein?

Dass die Welt nun gerade nicht so märchenhaft ist, wissen Geflüchtete am besten. Doch wie erzählt man, was in der Heimat passiert oder wie die Flucht gelang, wenn die Sprache hierfür (noch) nicht genügt? Eine ganze Menge Materialien dafür bietet die Box, die das Kasseler Kollektiv entwickelt hat. Erprobt wurden sie in Workshops, unter anderem mit Geflüchteten. Ein junger Afghane stellte dort eine Collage zusammen. Sein Bild zeigt seine Familie. Im Hintergrund sind die typischen Berge seiner Heimat zu sehen. Ins Bild klebte er eine Hexe ein. Afghanistan, da droht das Unheil.

Die meisterhafte ikonografische Verkörperung des Bösen, entworfen von der Berliner Gestalterin Gosia Warrink, hat kein Geschlecht, keine stereotype, krumme Nase – und wirkt dennoch. Zu sehen sind diese Stücke in einer begleitenden Ausstellung zur Box, zunächst in Kassel. Bis zum Ende des Jahres kommt sie als Wanderausstellung nach Mainz, Hamburg und Dresden.

Es ist offensichtlich, dass viele der Materialien – vom mehrsprachigen Märchenbuch bis zur begleitenden Musik-CD mit internationalen Rhythmen – primär Kinder ansprechen werden. In den gemeinsam veranstalteten Workshops wurde Warrink aber sehr überrascht: „Da haben erwachsene Männer mit Ausschneidfiguren hantiert.“ Auf beeindruckende Art und Weise zeigen die vielen entstandenen Exponate, dass es ganz und gar nicht kindlich sein muss, sich über Bilder, Musik oder Märchen mitzuteilen, wenn der Wunsch, verstanden zu werden, nur groß genug ist.

Zweieinhalb Jahre arbeitete das Kollektiv an dem Projekt Unboxing – Erzähl mir Deine Geschichte/n. Beteiligt waren rund 400 Menschen aus 16 Ländern, die 13 verschiedene Sprachen sprechen. Die Fülle an Material, die dabei zusammengekommen ist, ist zuweilen unübersichtlich. Die Leiterin der Grimmwelt, Susanne Völker, gab sich auf einer Pressekonferenz zur Ausstellung große Mühe, Konzept und Ideen mit vielen Worten zu erklären. Vom Fantasieren als Möglichkeit zur Abstraktion, von der Identität war da die Rede. Workshopteilnehmer Tajmohammad Faqiri aus Kabul spricht noch kein solches Kuratorendeutsch. Auch er, der erwachsene Mann, bastelte Collagen aus vorgefertigten Ausschneidfiguren. Sein Kommentar: „Das Besondere für mich war, dass ich die Leute verstanden habe, und sie mich.“ So wahrscheinlich kann Kommunikation werden, wenn man sich bemüht.

Info

Unboxing – Erzähl mir Deine Geschichte/n Grimmwelt Kassel bis 24. Februar 2019. Stationen der gleichnamigen Wanderausstellung sind u. a. Mainz (6. – 27.11.2018), Hamburg (5.12.2018 – 2.1.2019) und Münster (9.1. – 26.2.2019).

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