„Ich wurde klar langsamer“

Der Fall Caster Semenya Wie unterscheidet man Sportlerinnen von Sportlern? Joanna Harper ist beides schon gewesen. Ein Gespräch
Ausgabe 26/2019

Am 30. Juni lief die zweimalige Olympiasiegerin Caster Semenya bei einem 800-Meter-Lauf im kalifornischen Stanford. Dass sie das überhaupt durfte, stand zwischenzeitlich auf der Kippe. Erst im Mai entschied der Leichtathletik-Dachverband IAAF, dass Athletinnen bei bestimmten Sportarten einen Testosteron-Grenzwert einhalten müssen. Die 28-jährige Südafrikanerin Semenya wäre demnach zu „männlich“ für den Start als Frau. Sie klagte gegen die Entscheidung beim Internationalen Sportgerichtshof in der Schweiz, zunächst mit Erfolg. Nun erlitt sie einen juristischen Rückschlag und darf wohl doch nicht antreten, das Berufungsverfahren läuft aber weiterhin.

Die Entscheidung des IAAF hat langfristige Folgen, vor allem im Hinblick auf geschlechtliche Abweichungen und Transsexualität bei Sportlern. Joanna Harper war Sachverständige im Fall Semenya. Im Gespräch erklärt sie, warum es so schwierig ist, Sport außerhalb der Zweigeschlechtlichkeit zu denken.

der Freitag: Frau Harper, Sie sind Medizinphysikerin und leidenschaftliche Läuferin. Sie selbst haben mit Hormonen eine Geschlechtsangleichung von Mann zu Frau vorgenommen. Haben Sie einen Unterschied in Ihrer Leistung bemerkt?

Joanna Harper: Absolut! Ich war beeindruckt. Meine geschlechtliche Umwandlung habe ich 2004 begonnen. Ich wusste, dass ich langsamer werden würde, wenn ich mit der Hormontherapie anfange. Aber ich dachte damals, das würde eher graduell verlaufen. Ich lag falsch. Innerhalb von drei Wochen war ich spürbar langsamer und nach neun Monaten sogar zwölf Prozent langsamer. Das ist exakt der Unterschied zwischen professionellen männlichen und weiblichen Sportlern. Ich lief so viel wie immer, strengte mich an wie immer – aber ich konnte einfach nicht mehr so schnell laufen. Als Langstreckenläuferin veränderte sich meine Leistung innerhalb von neun Monaten komplett, von einer männlichen Leistung zu einer weiblichen Leistung.

Laufen Sie noch?

Jeden Tag. Heute Morgen bin ich 16 Kilometer gelaufen.

Wie denken Sie über den Fall Caster Semenya?

Zunächst sollten Sie wissen, dass ich Sachverständige im Prozess war. Ich bin also nicht unvoreingenommen. Aber vielleicht ist bei diesem Thema keiner wirklich neutral. Es ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Es geht um das Recht von Milliarden potenzieller Sportlerinnen, in einer Kategorie anzutreten, in der es einen fairen Wettkampf gibt, versus das Recht Hunderttausender Athleten mit Störungen der Geschlechtsentwicklung, die wie Semenya in dem Geschlecht antreten wollen, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, mit dem sie groß geworden sind und mit dem sie sich identifizieren. Es ist unmöglich, die Rechte dieser beiden Gruppen komplett zu vereinbaren. Es muss also eine Art Kompromiss geben. Ich glaube, die Regelungen, die vom Weltleichtathletikverband vorgeschlagen wurden, sind ein vernünftiger Kompromiss.

Sie glauben also, die sogenannte Testosteron-Regel ist ein faire Möglichkeit, dem Problem zu begegnen?

Ich glaube fest daran, dass das biologische Geschlecht und das soziologische Geschlecht zwei sehr komplizierte Sachen sind. Es gibt eine Menge Einflussfaktoren, die bestimmten, wann jemand ein Mann oder eine Frau oder vielleicht etwas dazwischen ist. Aber wenn es um den Sport geht, dann denke ich, dass wir eine evidenzbasierte Methode brauchen. Diese Methode sollte auf einem Biomarker beruhen, der ein Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen männlicher und weiblicher athletischer Performance ist. Und Testosteron erfüllt diese Bedingungen. Es ist nicht unbedingt das Einzige, was wir nutzen können. Aber ich glaube, gemessen am Stand der Wissenschaft 2019, ist es die beste Wahl. Lassen Sie mich das erklären: Sagen wir, jemand wurde bei Geburt als Frau identifiziert. Das bedeutet lediglich, dass die externen Genitalien zum Zeitpunkt der Geburt weiblich erschienen. Das hat nichts mit sportlicher Leistung zu tun. Eine andere Möglichkeit wäre, zu sagen: Jemand identifiziert sich als Frau. Auch das hat nichts mit sportlicher Leistung zu tun. Oder man sagt: Jemand ist rechtlich eine Frau. Und wieder: Das hat nichts mit sportlicher Leistung zu tun. Ich denke, egal mit welcher Methode man Sportler in männliche und weibliche Kategorien einordnet, sie muss auf der Leistung aufbauen. Es muss also ein Unterscheidungskriterium geben, das dabei eine große Rolle spielt. Und das Beste, was wir dafür haben, ist Testosteron.

Zur Person

Joanna Harper ist Medizinphysikern und Beraterin für das Internationale Olympische Komitee in Geschlechterfragen. Sie ist die erste Person, die einen wissenschaftlichen Artikel zu Transgender-Sportlern veröffentlichte

Wie wirkt sich das biologische Geschlecht auf den Sport aus? Welche Sportarten sind von den Unterschieden betroffen?

So gut wie alle Sportarten sind davon im hohen Maße betroffen. Außer vielleicht Pferdesportarten, da macht das Pferd ja die meiste Arbeit. Hier kommt nicht nur meine persönliche Erfahrung, sondern auch meine Forschung zum Tragen. Wenn Transgender-Sportler ihre Umwandlung vornehmen, wenn also Transfrauen anfangen, Testosteron zu unterdrücken, oder Transmänner anfangen, Testosteron zu nehmen, erfährt die Performance von Transfrauen einen deutlichen Rückgang, während die Performance von Transmännern zunimmt. Das passiert nur durch den unterschiedlichen Hormonhaushalt.

Gibt es andere biologische Einflüsse, die eine Rolle spielen könnten?

Wir könnten uns vielleicht Muskelfasern anschauen. Darüber wird gesprochen. 2016 habe ich einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht: eine retrospektive Analyse von acht Transgender-Langstreckenläufern. Seit 2016 sammele ich weitere Daten und stehe gerade kurz davor, einen weiteren ähnlichen Artikel zu veröffentlichen. Aber die Zukunft dieser Art von Forschung sind nicht retrospektive, sondern prospektive Studien. Ich möchte Transgender-Sportler finden, bevor sie ihre Umwandlung antreten, und darauf meine Tests aufbauen. Es gibt weltweit nur einige wenige Universitäten, die jetzt gerade anfangen, daran zu forschen. Zur Zeit kooperiere ich mit drei Universitäten, um herauszufinden, was mit Transgender-Sportlern während ihrer Umwandlung passiert. Vielleicht entdecken wir andere Biomarker im Zuge dieser Forschung.

2015 haben Sie in Ihrem Paper „Racetimes for Transgender Athletes“ erste Daten zu Transgender-Langstreckenläuferinnen veröffentlicht. Worum geht es in Ihrem nächsten Artikel?

Wenn man in einer wissenschaftlichen Zeitung veröffentlicht, wird es nicht gern gesehen, wenn man vorab über seine Ergebnisse spricht. Ich kann nur allgemein sagen: Wir schauen auf Unterschiede zwischen Transgender-Sportlern. Präziser möchte ich darüber hinaus nicht werden.

Wie sieht die Zukunft des Sports diesbezüglich aus? Werden wir noch eine klare Unterscheidung der Geschlechter haben oder geht es eher in Richtung geschlechtlich gemischter Ligen und Wettkämpfe – oder wird es gar eine dritte Kategorie, in der Sportler antreten können?

In Teamsportarten kann man absolut gemischtgeschlechtlich antreten. Ich glaube, bei mehr und mehr Sportarten wird das ins Auge gefasst. Es kann den Umgang mit Menschen außerhalb der Zweigeschlechtlichkeit und den Teambildungsprozess vereinfachen. Im Individualsport ist das sehr viel schwieriger. Dort müsste man eventuell über eine dritte Kategorie nachdenken. Da könnte es den 100-Meter-Sprint für Männer, für Frauen und für eine dritte Kategorie geben, so etwas. Aber das Problem ist dabei natürlich: Zwischen 98 und 99 Prozent der Menschheit lassen sich problemlos in die Kategorien weiblich und männlich einteilen. Man betrachtet also zwei Kategorien, in die sich jeweils fast 50 Prozent der Menschheit einordnen lassen, und dann hat man eine dritte Kategorie mit etwa einem Prozent. Es ist sehr viel schwieriger, ernst zu nehmenden Wettbewerb in dieser kleinen Kategorie zu erreichen. Aber es ist eine Möglichkeit.

Info

Dieser Text erschien zuerst im Freitag 26/2019, der Vorspann wurde am 31. Juli 2019 aktualisiert.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden