Im Reich der wilden Kängurus

Medien „Bild“ plant ein Portal für nutzergenerierte Inhalte. Journalismus kann das nur schwerlich werden
Ausgabe 03/2020

Was hinter den Kulissen bei einer Zeitung passiert, ist dem Leser nicht immer klar. Zum Beispiel, was einen Redakteur eigentlich vom Autor unterscheidet. Ganz grob: Manche Journalisten fahren hauptberuflich herum, sprechen mit Menschen, recherchieren, beobachten, schreiben Texte, die sie bei der Redaktion dann abliefern. Der Redakteur sitzt in der Redaktion, recherchiert zu bestimmten Themen, gibt jene Texte in Auftrag, kürzt, prüft, passt diese ins Layout ein. Manchmal schreiben Redakteure selbst, wie hier etwa.

Diese Arbeitsteilung hat einen Grund. Nicht nur sehen viele Augen mehr und können Fehler finden. Bei einem guten Zusammenspiel zwischen Autor und Redakteur kühlen die Egos beiderseitig ab und es tritt der Leser in den Vordergrund. Er will nicht einfach mit Informationen beworfen werden, sondern zahlt dafür, Sachverhalte elegant und prägnant erklärt zu bekommen. Er zahlt dafür, dass andere sich die Zeit nehmen, die er nicht hat.

Eleganz war nun noch nie die Stärke einer gewissen Boulevardzeitung, Prägnanz kann man ihr jedoch schwer absprechen. Nun hat Bild-Chef Julian Reichelt verkündet, er wolle mit seiner Medienmarke ein Portal für „User Generated Content“ entwickeln. Bild TV soll laut Reichelt die Plattform heißen. Ein Startdatum steht noch aus. Reichelt stellt sich ein nicht-lineares Angebot vor, das sich nach einer Übergangsphase zu weiten Teilen aus den Inhalten speisen soll, die die Nutzer selbst einsenden. Der Fachzeitschrift Horizont gegenüber sprach er von „Deutschlands erstem User-Generated-Channel.“

Nun ist schon das eine Lüge, denn Kanäle, auf denen hauptsächlich die Nutzer publizieren, gibt es etliche, auch in Deutschland. Das wissen natürlich allen voran Freitag-Leser, die seit Jahren auf freitag.de selbst Beiträge schreiben können. Auch sonst ist das Konzept nicht neu: Auf der Seite ViralHog, die vom US-Medienkonzern Jukin betrieben wird, können Nutzer Inhalte hochladen, die das Unternehmen lizenziert und weiterverkauft. Zu den Top-Inhalten zählen aktuell ein beeindruckender französischer Straßenmusiker, eine komplizierte Geburtshilfe und ein australischer Park-Ranger, der seinen Hund vor einem wilden Känguru rettet.

Das Problem liegt nicht bei nutzergenerierten Inhalten an sich. Manchmal, das weiß jeder Journalist, verbirgt sich hinter einer Leserzuschrift eine Sensation. Landen Inhalte aber ungefiltert im Netz, kann das mächtig schief gehen. „Wir setzen die wilde Gefühlswelt von Menschen in aufregende Bilder um“, sagte Bild-Chef Reichelt. Wie das aussehen könnte, lässt sich jetzt bereits auf Facebook, Twitter oder Instagram beobachten. Szenen von Demonstrationen, von Krawallen und Krieg, inmitten von süßen Tiervideos, Lachern und ergreifenden Schicksalen. Kontext ist nicht erwünscht, er stört die Emotion.

Was trifft den Polizisten da am Helm? Was rufen die Protestierenden? Welche Aktion ging einem Handgemenge voraus? Ist der Mutter klar, dass sie gefilmt wird und ihr Geburtsvideo im Netz landet? Das sind Fragen, mit denen sich Journalisten, besonders aber Redakteure beschäftigen. Fehlt die Einordnung, die Prüfung, die Wahrung presseethischer Grundsätze, wird Journalismus tatsächlich zur „wilden Gefühlswelt“: Jeder sieht, was er sehen möchte. Reichelt weiß das, schließlich ist auch er Redakteur. Mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte journalistischer Praxis bei der Bild ist allerdings nicht davon auszugehen, dass Presseethik bei einem kommenden Bild TV an allererster Stelle stehen wird. Für die Emotion lässt das Blatt Wahrheit, Genauigkeit oder Persönlichkeitsrechte gern links liegen. Dem ohnehin aufgeheizten Klima bei gesellschaftlichen Debatten wird so ein Portal reichlich Brennstoff liefern.

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