Immer der Reihe nach!

Impfdrängler Während in den Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen weiter gestorben wird, sichern sich Landräte, Polizisten und andere außerplanmäßig ihre Dosen
Bei 10.000 bislang durchgeführten Impfungen musste in Halle jede 20. Dose von aufopferungsvollen Amtsträger*innen vor dem Verfall gerettet werden
Bei 10.000 bislang durchgeführten Impfungen musste in Halle jede 20. Dose von aufopferungsvollen Amtsträger*innen vor dem Verfall gerettet werden

Foto: Ina Fassbender/Afp via Getty Images

Die Jüngeren unter uns werden sich noch erinnern: Weihnachten 2020, 26. Dezember, das „Licht am Ende des Tunnels“ wurde sichtbar, die erste Impfdosis empfing in Deutschland eine 101-jährige Seniorenheimbewohnerin aus dem sachsen-anhaltinischen Halberstadt. Kameras waren natürlich vor Ort, die betagte Frau wurde ausgiebig interviewt. Es folgten einige weitere Berichte derart. Der Gesundheitsminister zeigte sich zufrieden. Bis Sommer werde man allen ein Angebot machen können.

Aber die Impfdosen sind knapp. Daher gab es vor dem Impfangebot erst einmal ein Informationsangebot: Drei Gruppen unterscheidet der Impfplan. Zuerst geimpft werden soll Gruppe eins, die besonders gefährdeten über 80-jährigen Menschen sowie das Personal von Intensivstationen, Notaufnahmen und Rettungsdiensten. Danach, in den Gruppen zwei und drei, sind die 60- bis 80-jährigen sowie weitere Risikogruppen, besonders gefährdete Berufsfelder und Kontaktpersonen dran. Wegen der Knappheit wird aktuell nach wie vor ausschließlich Gruppe eins geimpft.

Was im Dezember noch nicht bekannt war: Während mit großem Bohei in Halberstadt die vermeintlich erste Nadel angesetzt wurde, wurde ein paar Kilometer nebenan ebenfalls geimpft. Nach Recherchen der dpa immunisierten sich der Landrat vom anhaltinischen Wittenberg und sein Vize ebenfalls am 26. Dezember. Ein Sprecher des Landkreises bestätigte entsprechende Meldungen gegenüber dem MDR. Es habe sich um einen „Testlauf“ gehandelt, bei dem Impfdosen übrig waren. Bald darauf mehrten sich Berichte von anderen Landrät*innen, Polizist*innen, Feuerwehrleuten, Geistlichen und Oberbürgermeister*innen, die alle entgegen des offiziellen Impfplans eine Dosis erhalten hatten. Die Restbestände scheinen sich in manchen Landkreisen geradezu zu stapeln.

Impfen nach eigenem Ermessen

Wie geht das vonstatten? Exemplarisch sei hier der Fall des Hallenser Bürgermeisters Bernd Wiegand genannt: Wiegand ließ sich am 17. Januar impfen. Er stand auf der Liste eines sogenannten Ad-Hoc-Impfplans. Dieser sieht vor, dass einige Menschen quasi notgeimpft werden, wenn am Abend eines Tages Dosen übrig sind, die sonst verfallen würden. Mittlerweile ist klar, dass so über 500 Menschen in Halle „außerordentlich“ geimpft wurden. Das lokale Onlinemedium Du bist Halle rechnete nach: Bei 10.000 bislang durchgeführten Impfungen musste jede 20. Dose von aufopferungsvollen Amtsträger*innen vor dem Verfall gerettet werden. In einem aufwändigen Verfahren – Sechs-Augen-Prinzip, Zufallsgenerator – werden „Härtefälle mit prioritärer Schutzberechtigung“ auserkoren, die angebrochene Impfdosen erhalten.

Irgendwelche gesetzlichen Vorgaben zur Auswahl der Härtefälle gibt es nicht. Es scheint rein zufällig Beamt*innen, Verwaltungsmitarbeiter*innen in Kliniken und Geschäftsführer*innen zu treffen. Wiegand verteidigte sich empört: Das sei eine „persönliche Angelegenheit“. Es liegen zwar mehrere Anzeigen vor, die Staatsanwaltschaft meldete allerdings bereits, dass nach einer ersten Sichtung der Akten keine Anzeichen für eine Ordnungswidrigkeit oder gar Straftat vorliegen. Es gibt ja auch keine entsprechenden Gesetze.

Vorbilder und Entschuldigungen

Ganz wie im Bundestag, wo schon seit Beginn der Pandemie fleißig getestet wird und FFP2-Masken in Hülle und Fülle vorliegen, wird das Prinzip der Vorbildfunktion nun auch beim Impfen fortgesetzt. Deswegen ist es nur verständlich, dass etwa der Virologe Hendrik Streeck, der sich in einer jüngsten Buchveröffentlichung dafür aussprach, mit dem Virus zu leben, bereits geimpft wurde. Im Interview mit dem NDR sagte er, er sei selbst davon überrascht gewesen, schon dran zu sein. Vielen älteren Bundesbürger*innen, die sich seit Monaten zu Hause einbunkern und sich fragen, welcher Wocheneinkauf nun der tödliche sein könnte, dürfte es ähnlich gehen. Aber wahrscheinlich ist es impertinent, solche Privatsachen überhaupt im Interview zu erfragen.

In diesem Sinne muss man es als geradezu mutig betrachten, wie der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern München, Karl-Heinz Rumenigge, dafür plädierte, das Private politisch zu machen, aus reiner Fürsorge für die Bevölkerung: „Wir wollen uns überhaupt nicht vordrängen, aber Fußballer könnten als Vorbild einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Lässt sich beispielsweise ein Spieler von Bayern München impfen, wächst das Vertrauen in der Bevölkerung.“ Für seine erfrischend feudale Idee erntete Rumenigge unverständlicherweise Hohn und Spott seitens mancher Spieler, die sich ihrer Vorbildfunktion offenbar nicht bewusst sind. So meinte der Bremer Fußballer Leonardo Bittencourt etwa: „Wir sind schon privilegiert genug, dass wir spielen dürfen. Da stelle ich mich doch nicht hin und sage: Ich möchte gerne geimpft werden.“ Wie frech! Seit Monaten müssen die Sportler*innen nahezu täglich die Test-Strapazen über sich ergehen lassen, während vielen Bundesbürger*innen das Stäbchenschieben erspart bleibt, weil Schnelltests nicht in den Apotheken verkauft werden. Und dann fällt ihnen einer so in den Rücken.

Mittlerweile gibt es jeden Tag neue Meldungen von Menschen, die notgedrungen außer der Reihe geimpft werden mussten. So berichtet etwa die Leipziger Volkszeitung von über 400 sächsischen Polizist*innen, die bereits immun sind, obwohl sie der nachpriorisierten Gruppe drei angehören. Die dpa weiß von mittlerweile neun Bundesländern, in denen außerplanmäßige Impfungen vorgenommen wurden.

In den Alten- und Pflegeheimen wird derweil munter weiter gestorben. Menschen, die ein Leben lang in die Kassen eingezahlt haben, aus denen Oberbürgermeister*innen, Polizist*innen, Landrät*innen und mancher Virologe bezahlt werden, dürfen ihren selbst bezahlten Lebensabend nicht mehr verbringen. Sie waren einfach noch nicht dran. Während der Hallenser OBM seine Impfung noch verteidigt, hat sich der Landrat von Wittenberg für seinen Vorzug mittlerweile entschuldigt. Ein Vorbild für uns alle.

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