Joggen mit Drangsal

New Wave Auf der Bühne trägt Max Gruber rosa Springerstiefel. Unseren Autor traf er im Trainingsanzug
Ausgabe 34/2021

Es gibt eine Sorte Mensch, die es nur schwer erträgt, wenn Sachen nicht ganz eindeutig sind. In ihrer Welt ist eine Farbe gelb oder grün, nie gelbgrün, und Menschen sind entweder Gottes Schöpfung oder eine Ausgeburt der Hölle.

Max Gruber ist einer, der wenig Probleme damit hat, uneindeutig zu bleiben. Und daher ist es nur folgerichtig, dass der 28-Jährige jene eben beschriebene Sorte Mensch beträchtlich aufregen kann. Ein paar Tage vor der Veröffentlichung seines neuen Albums Exit Strategy ist der Musiker zum Thema in einer Chatgruppe der Querdenken-Bewegung geworden, bekam „auffällig viele“ Nachrichten, in denen ihn Leute unter anderem zur Hölle wünschen.

Warum? Ist es das Plattencover, auf dem ein kahlgeschorener Gruber eine Teufelsversion von sich selbst im Spiegel anschaut? Oder vielleicht das Spiel mit den Geschlechterrollen in der Single-Auskopplung Mädchen sind die schönsten Jungs? An Reizthemen für alle, die nur Nullen oder Einsen akzeptieren, ist diese Veröffentlichung nicht arm. Gruber nimmt die Attacken gelassen: „Es ist lustig und auch nicht lustig, aber das sind ja die besten Sachen.“

Lustig und traurig, bittersüß ist auch der Sound des Exit-Strategy-Albums. Das Titelstück etwa ist ein hymnisches und schizophrenes Arrangement. Max Gruber (Künstlername Drangsal) hat seinen charakteristischen New-Wave-Sound aufpoliert, seine Liebe zu Morrissey, von dem er einen Albumtitel (Viva Hate) quer über die Brust tätowiert hat, bleibt erkennbar. Textlich spiegelt der Song gut die Ambivalenz wider, die Gruber umgibt: „Superstar, undankbar, ganz und gar unzumutbar, manchmal da komm ich klar, manchmal wünsch ich, ich wär’ nicht da.“

Der Musiker kommt aus einer pfälzischen Kleinstadt, einer Welt, in der Uneindeutigkeiten wie Männern mit Ohrringen misstraut wurde. Er verließ die Provinz noch im Teenageralter, irrte eine Weile zwischen Leipzig und Berlin umher, entschied sich letztlich für die Hauptstadt. Und die Musik: „Wenn sich das mit der Musik nicht ergeben hätte, wüsste ich wirklich nicht, was ich jetzt machen soll“, sagt er durchaus ernst. Nun mangelt es ihm jedenfalls nicht an Dingen, die zu tun sind. Mit grüngelb lackierten Nägeln kommt Gruber zum Interview. Und im Trainingsanzug. Künstler, Agentur und Journalist waren sich einig, dass Ausdauersport an einem windigen und regnerischen Tag mitten in Berlin eine fantastische Idee ist, um jemanden kennenzulernen.

Nackt, mit Farbe beschmiert

Oder? „Hast du manchmal so ‚Was mache ich hier eigentlich?‘-Momente in deinem Leben? Für mich ist das hier einer davon“, muss der Autor feststellen. „Nackt mit Farbe beschmiert durch die Gegend zu tanzen war vielleicht einer“, entgegnet Gruber trocken. Gemeint ist das Video zu Exit Strategy. Darin sieht man den großen, schlanken Mann, wie Satan ihn schuf. Ein Greenscreen-Effekt und ein wenig Farbe lassen den nackten Körper teilweise verschwinden. Ist die Exit Stategy, dieser Wunsch nach dem Einfach-Verschwinden, am Ende ein suizidales Motiv? „Mit 18 denkt man: In zehn Jahren hat sich die Suche nach mir selbst bestimmt erledigt. Jetzt bin ich 28, und nein, es ist nicht so. Und vielleicht ist es das ganze Leben so. Wo soll ich hin, wenn ich nicht mehr ich selber sein will?“ Kurz nachdem er diese Sätze ausgesprochen hat, beantwortet Gruber die Frage physisch und joggt ein wenig vor sich selbst davon.

Mit der Musikjournalistin Miriam Davoudvandi sprach Gruber in einem Podcast kürzlich über sein früheres Image. „Unfreundlich“ und „jähzornig“ soll er gewesen sein. Er selbst sagt, sein Produzent Markus Ganter habe ihn „getragen, als ich untragbar war“. Jetzt, in dieser stressigen Zeit kurz vor einer Veröffentlichung, ist davon wenig zu spüren. Ein paar Promo-Termine noch, dann beginnt eine kleine Mini-Tour. Keine „richtige“, wie er betont, aber immerhin ein paar Gelegenheiten für ihn, mit schrillen Kostümen und viel Make-up auf der Bühne zu stehen. Oder auch ohne.

Drangsal ist Drama, manchmal allein um des Dramas Willen. Gerade in seinen neuen Songs wirkt jede Silbe wie einzeln frisiert und mit viel Gewicht vorgetragen. Gut zu hören ist das etwa im besagten Mädchen sind die schönsten Jungs, eine Hommage an alle, die sich in Geschlechterrollen nicht wohl fühlen: „Betrachtet in Hormonspiegeln bist du ein Buch mit sieben Siegeln.“ Abgesehen von jenen, für die das Aufweichen solcher Kategorien nichts Geringeres als das Werk des Teufels darstellt, erhielt er dafür viel Zuspruch. „Hab mich noch nie so verstanden gefühlt von einem Lied“, kommentiert eine Hörerin auf Youtube. Empathisch wirkt der Song, obwohl Gruber darin gar nicht primär von sich selbst spricht. Es wäre die Gelegenheit gewesen, sich als progressiver Fürsprecher für eine Gruppe, vielleicht ja sogar eine Zielgruppe, zu inszenieren. Gruber lässt sie verrauchen. Seine Kunst sei „Masturbation“, meint er: „Ich mache das nicht, weil ich will, dass es irgendwer für mutig hält. Ich mache das, weil ich, Max Gruber, das cool finde.“

Was Max Gruber cool findet, taumelt manchmal gefährlich nah am Kitsch. Aber das ist eingepreist: „Ich finde es gut, wenn Leute Texte schlecht oder cringe finden, weil das ist es auch. Aber ich liebe das. Man muss musikalisch und textlich auch da hingehen, wo es unangenehm wird.“ Auffallen: ja. Gefallen: vielleicht.

Wenig ergibt Sinn, wenn man diesen Mann kurz kennenlernt. Er ist einer, der sich als schüchtern beschreibt und die Bühne dann in rosa Springerstiefeln betritt. Ein Typ, der mit ansteckend vielen Anglizismen spricht, seine Songs aber Ingrimm oder Liedrian nennt. Einer, der sich für faul hält, aber zwischen zwei Interviewterminen kurz ein paar Kilometer laufen geht. Er scheint seinen Frieden mit dem Widerspruch gemacht zu haben: ein bisschen laut und leise, ein bisschen echt und fake, ein bisschen Liebe für alle und ein bisschen „Viva Hate“. Selbst schuld, wen das wütend macht.

Info

Exit Strategy Drangsal Caroline (Universal), 2021

12 Monate für € 126 statt € 168

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