Als mir Susann Massute, die unsere Titelseite gestaltet, vom Seemannslieder-Trend auf der Plattform TikTok erzählte, hatte ich sofort Kopfkino: Ich sah gut durchblutete, hydrierte junge Männer mit glänzender Haut in Flanellhemden. Dieselben Männer, für die in allerlei Großstädten Friseurläden im 50er-Jahre-Barbershop-Stil geschaffen werden mussten und wegen denen vermutlich Zeitschriften wie Beef! existieren, in denen erklärt wird, wie man als kerniger Mann-Mann mit gestutztem Bart das richtige Raucharoma für sein Hirschsteak erzielt.
Umso überraschter war ich, als ich den eigentlichen Ursprung des Trends entdeckte: Ein sympathischer, ganz und gar nicht bärtiger, 26-jähriger schottischer Postbote singt das Lied Soon May the Wellerman Come aus dem 19. Jahrhundert in Schwarz-Weiß. Mittlerweile haben es ihm Hunderte auf der Plattform nachgemacht, mal mehr, mal weniger professionell. Bemerkenswert ist unter anderem eine Performance von vier Bodybuildern, die durch offenkundig einseitiges Brustmuskeltraining recht slapstickartig daherkommen und dem melancholischen, sanftmütigen Lied eine erhebliche visuelle Dissonanz hinzufügen. Neuere Interpretationen haben gar politischen Gehalt und klagen über die nicht enden wollende Pandemie, im selben Ton, in dem vor vielen Jahren wohl über nicht enden wollendes Meer am Horizont geklagt wurde.
Zügig waren die Experten zur Stelle, die zunächst klarstellten, dass Soon May the Wellerman Come gar kein richtiges „sea shanty“ sei, weil das Lied solitär gesungen wird. In der New York Times erklärte ein Professor für irische Kulturgeschichte, dass echte Seemannslieder zur rhythmischen Unterstützung der oft nur in Gemeinschaft zu bewerkstelligenden Arbeiten am Hafen und zur See genutzt wurden. Daher werden sie zumeist von einem Vorsänger und einem Chor gesungen, der einsteigt und damit seinen Arbeitstakt stimuliert. Nun, da wir das hochamtlich klären konnten, bleibt noch die Frage: Warum?
Wer die deutsche Poplandschaft abseits der fürs Feuilleton interessanten Künstler verfolgt, der weiß, dass es hier nicht erst seit gestern einen Trend zum Folkloristischen und, ja, auch zum Seemännischen gibt. Nachdem das Label „Volkstümliche Musik“ jahrelang für „klassische“ deutsche Folklore (sprich: Marschmusik ohne den fiesen, historisch vorbelasteten Militär-Sound) à la Kastelruther Spatzen reserviert war, sorgt seit Anfang der 2010er Jahre die Band Santiano für, Verzeihung, frischen Wind. Die fünf mittelalten Herren aus Schleswig-Holstein räumten mit ihrer Seebären-Nostalgie immerhin vier Mal den Musikpreis Echo in ihrer Kategorie ab, bevor dem Preis von einem anderen Rollenspiel-Duo, noch mal Verzeihung, der Wind aus den Segeln genommen wurde.
Nun könnte man sich aus einer elitären Popkritiker-Position heraus ganz hervorragend lustig machen über dieses etwas skurrile Männertheater. Nicht ignorieren kann man, dass eine totgeglaubte Spielart der Volksmusik offenbar Millionen von Menschen auf die eine oder andere Art und Weise anspricht – seien es junge Muskelmänner auf TikTok oder eben die überwiegend reiferen Hörer*innen von Santiano. Was eint sie? Eskapismus? Flucht in die fiktive Welt? Sehnsucht nach einer verlorenen, harten händischen Arbeiterkultur und der damit verbundenen authentischen Männlichkeit?
Das würden vielleicht Kulturtheoretiker sagen. Vielleicht ist es aber gar nicht so kompliziert. Vielleicht kommt im Seemannslied und in der dazugehörigen Ästhetik etwas ganz Simples und gerade deswegen so Verständliches zum Ausdruck: ein Gemeinschaftsgefühl, das entsteht, wenn Menschen gleichzeitig das Gefühl haben, eine schwere Zeit durchstehen zu müssen.
Kommentare 8
Shanties fallen aus der Fiesen-Rubrik raus; entsprechend sind sie auch in Inas Nacht schon seit Ewigkeiten integraler Bestandteil der Sendung. Historisch waren Seemannslieder meist die Lieder der Guten – etwa von denen, die vor den deutschen Feudalverhältnissen nach Amerika ausgewandert sind. Und dort absolut gute Dinge getan haben – wie beispielsweise Carl Schurz.
Darüber hinaus sind die Weite und das Meer exakt das Gegenteil von enger, spießbürgerlicher Heimatseligkeit – darauf kann man getrost ein La Paloma singen.
Mich packt auch immer das Gefühl. Schon bei "Rolling Home" - das ja sogar der olle Freddy Quinn ordentlich hingekriegt hat.
Aber so richtig gänsehautmäßig schlägt bei mir des alten bb "Ballade von den Seeräubern" zu. Hier ist sie - "kulturelles Erbe" von Ernst Busch zelebriert.
Oh Himmel strahlender Azur
Enormer Wind, die Segel bläh'
Lass Wind und Himmel fahren, nur
Lass uns um Sant Marie die See
https://www.youtube.com/watch?v=m1LbgkKfZFM
Seemannslied und Country- Song liegen nicht weit voneinander.
Recht berühmtes Beipiel (praktisch von jeder (Folk-) KünstlerIn einmal gesungen :
"Bury me not on the lone prairie" war ursprünglich ein Seemannslied und hieß "The ocean burial", mit dem Beginn, >>Bury me not in the deep, deep sea.". - Es stand, wie in der Prärie, für die bittere Realität des unbekannten Grabes.
Unter Benjamin Brittens Folk- Song Bearbeitungen findet sich auch der "Sailor-Boy", ein Folk- Song aus den Appalachen Kentuckys!
Shanties als Grundlage oder auch Tanzmusiken der Seeleute, wie der Hornpipe, inspirierten u.a. Mike Oldfield oder The Decemberists ("A mariner´s revenge song"). Einer der schönsten Nick Cave Songs heißt "The ship song" und "The Longest Johns" singen "Wellerman" auf ihrem Album "Between Wind and Water", im Chorus.
Sie haben völlig Recht, wenn Sie auf das Gemeinschaftsgefühl verweisen, das immer noch nötig ist, um zu überleben, um zu arbeiten, auf hoher See, in der Cowboy- Prairie oder in den Weiten Sibiriens, nun in der Shutdown-Einsamkeit, die sich besonders auch für selbstständige Musiker und Künstler als bittere Realität erweist.
Mitnichten geht es in den Seefahrer- Liedern, die besonders Briten, Franzosen, Spanier und US- Amerikaner historisch lange schon sammeln und immer wieder neu aufarbeiten, um eine Verniedlichung oder eben Eskapismus.
Heute fasziniert das bestimmt nicht nur Männer und Männergesellschaften, freiwillige, erzwungene oder notwendige, sondern eben auch Frauen, die nicht nur die Welt umsegeln können, sondern auch andere Kurse steuern.
Vielleicht die beste und früheste Erklärung für die anhaltende und berechtigte Beliebtheit der Folk- Tradition, lieferte bereits der Titel Thomas d'Urfeys gigiantischer Liedersammlung "Wit and Mirth, or Pills to Purge Melancholy", die über Jahre an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert entstand und seither als "Treasure trove" immer wieder aufgelegt und in Auswahleditionen kondensiert, Literaten und Musiker animierte: Die Melancholie des ausgelieferten Seins muss bekämpft werden , um wieder nach "Old Maui" zurückkehren zu können.
Beste Grüße und nur weiter
Christoph Leusch
Immerhin hat "Das Boot" 1981 von "Leutnant Werner" noch kein Platin gewonnen.
Das tut dem Seemannslied aber unrecht, Biene, das Thema assoziativ so abzulenken. Selbst die "Kriegsmarinierten" sangen lieber zivile Shanties und tanzten lieber nicht nach der Pfeife.
Aus verschiedensten Gründen, singen die realistisch gemalten Elitesoldaten des Nazireiches auch keine solchen Lieder und der "Alte" hat höchstens noch ein Faible für die, unter allen Soldaten beliebten, Klassiker: "A long way to Tipperary".
Daran ist übrigens sehr interessant, dass der Textinhalt, nämlich die halbherzige Lamentation eines ausgewanderten irischen Arbeiters, es höchstens noch in eine Londoner Spelunke (gleichen Namens) zu schaffen, fern von seiner "Molly", keine Rolle spielte. - Molly schreibt ihm in besserem Englisch zurück (Schreibschwäche der Männer), sie habe einen Neuen, komplett irisch, wenn er sich nicht auf den Heimweg mache.
Zum Glück ist "Das Boot" durchaus nicht der erfogreichste deutsche Film, wie viel glauben, die die endlosen Wiederholungen in den TV- Programmen mitverfolgen. Im Inland liegen die Knödelkommödien weit vorn und im Ausland schafften es erstaunlicherweise anspruchsvollere Produktionen auf die Spitzenplätze.
Wie ist das denn so in Mexiko? Singt man tatsächlich mehr nationalistische, gar kriegerische Lieder, neben den raren Sauerstoffflaschen? Gibt es ein Revival des Zapata- Mythos im Lied oder lediglich zackige Militärmusik?
Auf einen Shanty oder einen Hornpipe lässt sich schlecht marschieren. Auf die meisten Folksongs schon einmal gar nicht. Was macht jungen und alten Mexikanern musikalisch Hoffnung?
Die Neuseeländer feierten um den Jahreswechsel so: https://djmag.com/news/thousands-attend-music-festivals-and-events-new-zealand
Vorher gab es, für 186 Tage ohne Gig, Hilfen von der Regierung.
Gute Woche
Christoph Leusch
..."Wie ist das denn so in Mexiko? Singt man tatsächlich mehr nationalistische, gar kriegerische Lieder, neben den raren Sauerstoffflaschen?"...
Du bist da intelektuell absolut unterfordert Columbus. Hier wird noch jeden Morgen auf dem Schulhof die Nationalhymne auf dem Schulsportplatz rausposaunt, wieder 5 - 10 Minuten im Eimer, rechne das mal auf 12 Jahre (Gymnasium) hoch, die Minuten...
Ein deutscher Anthropologe hat mir mal erklaert, "Wir brauchen das nach 1918 und post 1945 nicht mehr", selbst das deutsche Eck in Koblenz interessiert keinen mehr bei uns.
In unterentwickelten Laendern musst du als Regierung immer auf die Nationalsstolzposaune hauen, ob das dann "Kriegshelden" auf dem Geldschein sind oder 97 Minuten Fussball, meistens auch da verschissen spielt da keine Rolle. Du musst versuchen die sozialen Gegensaetze in eine "Gemeinschaftsblase" aufzuplustern, obwohl es NULL Gemeinschaft gibt.
Mehr sage ich dazu nicht, das wird ein halbes Buch.
:-D
P.S.
Die Sauerstofflaschen fuer den halben Tag sind jetzt online bei ca. 1500 Euro, Versteigernd, wir sind ja in einem "Angebot und Nachfrage - Land".
;-)
Gruss
Ich dachte es mir.
Gute Woche
Christoph Leusch
Shanties? Na, meinetwegen. Ich fürchte eigentlich nur eines: Dass die Jugend sich zum wiederholten Male dem deutschen Schlager oder dem Scooter-"Techno" zuneigen könnte. Brrrh.
Ab und zu gibt es tatsächlich mal ein wirklich hörenswertes Shanty. Mir fällt allerdings nur das "Sea Shanty" von den Pogues (1984) ein. Heißt so und ist eines. Shane MacGowan hat es getextet und singt auf eine lustig-folk-punkige Nummer (einschließlich Akkordeon) in bester Bukowski-Manier davon - passt bestens zu ihm -, was er alles für brutale Scheiße anstellt oder anstellen möchte:
"There was never a wilder bastard than me on the seaI could fuck all the whores in damnation me, boys / Though they wriggled and hollered and made a great noise / Then I'd drink till I stank and then drink plenty more...". Und. "I met with Bill James we fought over crusts / I called him a whore and he booted me crotch / Then we shared out the jack and we thought it a treat..." (Huren ficken, saufen, saufen, saufen und sich den Schiffsjungen teilen). Der Song wird bei Spotify nicht ganz zu Unrecht als "explicit" bezeichnet. Aber wie bei Bukowski ist die provokatorische Brutalität zugleich eine realistische Schilderung. Hier also mal keine Romantisierung des Seemannslebens.
Zumindest das exzessive Saufen, zuzüglich drücken und sonstwas einwerfen, hat Shane aber tatsächlich ausgiebig praktiziert. Er ist nicht mit 27 gestorben, weil er da noch nicht berühmt genug war. Aber zu seinem 60. Geburtstag saß er schon im Rollstuhl und hatte keinen einzigen Zahn mehr im Maul. Er saß beim 60-Tributkonzert im Rollstuhl daneben, als Leute wie Senéad O'Connor, Nick Cave und Carl Barat sowie der Bill Gates der Rockmusik, U2-Bono, ihm singend Tribut zollten. Sie alle ehrten in ihm den echten selbstzerstörerischen Rock'n'Roll-Outlaw, den man als Kolleg:in einfach verehren muss, schon der eigenen Street credibility wegen. Die Selbstzerstörung muss man/frau natürlich nicht mit letzter Konsequenz nachvollziehen. Sie alle haben die Kurve gekriegt. Nick Cave, der ein ganz müdes "Summer of Siam" (auch ein Pogues-Song) von der Bühne raunte, ist proper, schlank, hübsch und gesund wie ein schwarz-romantischer Jüngling. Ein anderer, allerdings doch etwas glaubhafterer Shane-MacGowan-Verehrer, Joe Strummer, war da schon 15 Jahre tot.
In dem eben schon zitierten Pogues-Shanty hat Shane MacGowan die wohlfeile und etwas heuchlerische Heldenverehrung, der er zu seinem 60. im Jahre 2017 dann geduldig beiwohnte, bereits vorausgesagt: "And when all of us bold shithouse poets do die / A monument grand they will raise to the sky / A monument made just to mark our great wit / A monument of solid shit now me, boys..."
Böses, gemeines, sarkastisches Shanty - und ein Ohrwurm.