Dieser Sonntag wird sich anfühlen wie eine lange Schulstunde, die durch ein erlösendes Pausenklingeln beendet wird. So sehen es zumindest viele Deutsche: Satte 75 Prozent der Befragten einer Umfrage des Instituts Civey im Auftrag der Zeit gaben an, sie seien „auf jeden Fall“ froh, dass der Wahlkampf ein Ende findet.
Dabei sollte das doch die „Wahl unseres Lebens“ sein, oder: „Der Wahlkampf unserer Leben“, wie es taz-Chefreporter Peter Unfried kürzlich nannte. Auch er ist der Überzeugung: In den vergangenen Wochen ging einiges schief, und daran seien „die Medien“ nicht ganz unschuldig. Sie hätten den Kanzlerkandidat*innen viel zu viel durchgehen lassen. Und das in einer Zeit, in der es ums Existenzielle geht.
Ist das wirklich so? Im letzten Triell sprach Annalena Baerbock von sieben Metern Meeresspiegelanstieg. Sie beruft sich implizit auf ein Szenario, in dem die Erderwärmung nicht begrenzt wird. Es ist ein fiktives Szenario, aber es basiert auf Berechnungen, die anhand der schon jetzt nicht zu leugnenden Realität vorgenommen wurden. Wenn so gar nichts gegen die Erderwärmung unternommen wird, könnten in 80 Jahren weite Teile des heutigen Festlandes unter Wasser stehen und Extremwetter zum Alltag gehören. Aber auch sonst mangelt es nicht an Problemen: eine gigantische soziale Ungleichheit, wachsender Antisemitismus und Rassismus, Fake News und Verschwörungsideologien, Wohnkrise, Rohstoffkrise, und, ach ja, eine Pandemie haben wir ja auch noch.
Es ist nun nicht so, dass keines dieser Themen im Wahlkampf eine Rolle gespielt hätte. Gleichzeitig ging es aber auch um Currywürste, Lastenräder, Lebensläufe und allerlei andere Belanglosigkeiten. „Urlaub: Lieber an der Ostsee oder auf Mallorca?“, fragten Pinar Atalay und Peter Kloeppel in der Schnellfragerunde des zweiten Triells die Kandidat*innen. Man kann sich gut vorstellen, wie die Redaktion das für eine wahnsinnig geistreiche Idee hielt: Wenn sie Malle sagt, haben wir sie! Die vierte Gewalt schlägt zurück! Wer meint, das ginge kaum blöder, dem sei ein Ausschnitt der n-tv Wahlkampfberichterstattung empfohlen: „An dieser Stelle muss ich dich unterbrechen, wir sehen hier Markus Söder und Armin Laschet, wie sie ihre Nürnberger Bratwürste serviert bekommen.“
Ein großer, leerer Raum
Mitte August waren laut einer weiteren Umfrage knapp 80 Prozent der Befragten der Meinung, dass es im Wahlkampf zu wenig um Inhalte ginge. Einen Monat später, kurz vor der Wahl, hat sich dieser Wert kaum verändert.
Es verwundert nicht: Die Art, wie heute in Deutschland Wahlkampf geführt wird, hat sich verändert. Persönlichkeiten werden wichtiger, politische Inhalte nebensächlicher. Die Kandidat*innen sollen ihres Images beraubt werden, das sie sich sorgfältig zurechtgelegt haben (lassen). Sie sollen nahbar werden. Oder, wenn das alles nicht geht, dann sollen sie sich wenigstens zünftig aufregen, um endlich aus ihrem glatten Politsprech auszuscheren.
Aber all das Geschrei und sein Widerhall in den Medien zeigen nur, wie leer der Raum ist. Mein Kollege Lukas Hermsmeier fragte sich kürzlich: „Wann endlich hören diese Politikerporträts auf, in denen jedes Essens- und Mimik- und Kleidungsdetail beschrieben wird, weil es für etwas Größeres stehen soll, aber das Größere kommt dann immer nicht, wann?“
Vielleicht ist das so, weil es da nichts Größeres gibt, weil diese journalistische Technik aus einer Zeit stammt, in der es bei Politik noch ums Ganze ging, und nicht um verschiedene Fassetten einer Verwaltung des Unvermeidlichen. Auf dem Papier wollen sie alles lösen: die Ungleichheit, die Klimakrise, die explodierenden Mieten. All das soll aber passieren, ohne an irgendeiner Stelle über Ursachen zu reden. Über den Widerspruch zwischen einer endlichen Erde und der Annahme von unendlichem Wirtschaftswachstum. Oder dem Widerspruch zwischen menschlichen Bedürfnissen und unternehmerischen Interessen. Oder eben: Über den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit.
Die große Show
Colin Crouch beschrieb 2004 in Postdemokratie dieses damals neuartige Politikverständnis: „Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, […] in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. […] Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“
Zu diesem Verständnis von Politik gehört der Fokus auf die individuelle Integrität. Alle wissen, dass Politiker*innen Menschen sind. Lassen sie ihre Fehlbarkeit aber im falschen Moment aufblitzen, ist das Publikum empört. Buh, welch schlechtes Schauspiel! Nochmal Crouch: „Jedesmal, wenn wir einen Fehler oder ein Missgeschick bereits dann als behoben betrachten, wenn ein unglückseliger Minister oder Beamter zurücktreten muss, machen wir uns paradoxerweise mit einem Modell gemein, in dem die Politik allein als das Geschäft kleiner Gruppen elitärer Entscheidungsträger gilt.“ Wohlgemerkt: Crouch schreibt über 2004, als tatsächlich noch hin und wieder jemand wegen irgendetwas zurückgetreten ist. Mittlerweile gehört zum Spektakel, dass das freilich nicht passieren muss.
Es ist zu einfach, für den vergeigten Wahlkampf nur die Medien zu schelten. Es liegt auch am Publikum. Wer eine Kandidatin schlicht unsympathisch findet, weil sie „so komisch redet“ oder weil ein Politiker in einer unpassenden Situation abgelichtet (Laschet lacht!) wurde, der muss sich nicht mit den elendig langen Programmen beschäftigen: ,Den wollte ich ohnehin nicht wählen – und jetzt weiß ich auch wieder, warum!‘ Machen wir uns aber nichts vor: Wer neben seiner 40-Stunden-Woche, seinem Nachwuchs, seinen zu pflegenden Eltern und seinem letzten Rest Nervenruhe ohnehin keine Zeit findet, sich mit Parteien und Personal zu beschäftigen, der nimmt diese Abkürzung dankbar an. Für eine echte Beteiligung am politischen Geschehen lässt ein System kaum noch Platz, welches das Individuum ständig dazu nötigt, neben der Arbeit für jemand anderen auch Arbeit an sich selbst zu verrichten. Die Postdemokratie kommt nicht von selbst, wir ackern ihr pausenlos entgegen.
Vielleicht leiden wir genau deshalb an einer kollektiven Psychose. Vielleicht haben wir uns längst daran gewöhnt, dass sich nie wirklich etwas ändert, dass keine Katastrophe, kein Amoklauf und kein Protest je irgendetwas zur Folge hätte, was ein Problem an der Wurzel packen würde, nicht hier und nicht anderswo. Vielleicht sind wir so müde geworden, dass wir uns dankend eine dämliche Debatte nach der anderen reinziehen, um uns aufregen zu können – und so glauben, unseren Teil getan zu haben. Vielleicht haben wir diesen beispiellos bescheuerten Wahlkampf verdient.
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