Kugeln im Kopf

Sommer Die Suche nach dem besten Eis der Stadt ist Zeitreise, Milieustudie und kulinarische Grenzerfahrung zugleich
Ausgabe 26/2019
Kugeln im Kopf

Illustration: Christian Bobsien für der Freitag

Dem Eiscafé Da Dalt sieht man seinen sagenumwobenen Ruf nicht an. Der schlichte Laden, kaum mehr als eine Durchreiche, soll das beste Eis Berlins ausgeben. Wer das nicht weiß, würde an der unscheinbaren Diele wohl vorbeilaufen. Es ist Ferienbeginn in Berlin und bestes Eiswetter. Inhaber Ilario Zamo räumt ein paar Holzbänke vor den Laden und bringt den Sonnenschutz in Position. Kurz nach Ladeneröffnung um elf Uhr bestellen schon die ersten Jugendlichen. Der braun gebrannte Italiener schwitzt und ist gestresst, es ist Hochsaison. Seine Frau Stefania wickelt die Kunden ab. Sie gibt ihm zu verstehen, dass ein Reporter vor Ort ist: „Giornalista!“ Es ist nicht das erste Mal, dass die Presse hierherkommt.

Zamo hat eigentlich keine Zeit für Fragen. „Viel zu tun“, sagt er mit italienischem Akzent. Vor 30 Jahren kam er zusammen mit seiner Frau nach Deutschland. Vorher hat er Stühle hergestellt, sie war Restauratorin. Nun machen beide seit 25 Jahren Eis. Bei ihm gibt es die Klassiker. Eine Kugel Schokolade, Vanille, Stracciatella oder Kirsch gibt es für je 1,10 Euro. Ein Becher – Spaghetti, Schwarzwald, Erdbeere – kostet 5 Euro. „Unsere Kunden finden, das ist ein fairer Preis“, sagt Zamo. In Berlin kostet die Kugel aktuell im Schnitt 1,44 Euro. Vor 25 Jahren, so Zamo, lag der Preis noch bei 80 Cent. „Nein, nicht Cent. Pfennig!“, korrigiert er sich. Er mustert den neugierigen Reporter skeptisch: „Waren Sie da schon geboren?“

Der Eispreis orientiert sich an der allgemeinen Teuerung, dennoch verhält es sich mit ihm wie mit dem Preis für Bier oder Benzin. Wie viel eine Kugel wo kostet, wie groß sie dann ausfällt und welche Sorten verfügbar sind, das ist Politikum, Wohlstandsindikator und Daueraufreger. Es lässt Rückschlüsse auf das Milieu rund um die Eisdiele, auf den Geschmack der Region, ja sogar auf die durchschnittliche Kaltmiete zu. In Berlin-Schmargendorf wohnt man vergleichsweise günstig. Noch immer.

Der Name Da Dalt geht auf den Gründer Luigi Da Dalt zurück, der 1966 die erste Eisdiele unter diesem Namen eröffnete. Zamo hat den Laden übernommen, seitdem steht auf dem Schild „Da Dalt by Ilario Zamo“. Traditionelle Eisdielen wie seine werden zur Seltenheit. Laut dem Branchenverband Uniteis gibt es in Deutschland etwa 9.000 Eiscafés. Viele davon sind in italienischer Hand und heißen Venezia oder Dolce Vita. Eine eigene Eisproduktion hat nur noch etwa ein Drittel der Salons. Auch Zamo stellt selbst her.

26 Sorten bietet er im Sommer an. Laut „Uniteis“ zählt das Fürst-Pückler-Trio – Schokolade, Vanille, Erdbeere – unangefochten und in dieser Reihenfolge zu den beliebtesten Sorten der Deutschen. Aber, so betont Zamo, er biete auch Trendsorten an. „Cookies“ zum Beispiel, oder „Cheesecake“. Und: Er hat eine Sorte ohne Milch, denn: „Viele Leute sind zurzeit leider laktoseintolerant.“ Er sagt das so, als ginge es um eine bedauerliche Mode. Über Sortenwünsche informiert er sich bei den Eisliebhabern direkt. „Wir haben kein Problem, mit den Kunden zu reden“, sagt er.

Obacht, es schmeckt lakritzig

„Prego!“, ruft er, wenn man sich nur in die Nähe seiner Durchreiche bewegt; „prego“, dieses sehr italienische „Bitte“: halb höfliche Anrede, halb militärischer Befehl. Eine Kugel Schokoladeneis schöpft er in Sekunden aus dem Gastro-Normbehälter. Es überrascht nicht und enttäuscht nicht, es schmeckt nur gut. So simpel soll es sein – das beste Eis der Hauptstadt?

Geöffnet ist hier von Mitte Februar bis Ende Oktober. Die Saison hat also Halbzeit. Es läuft gut, aber letztes Jahr, so Zamo, wäre es besser gewesen. Warum? Er deutet mit dem Finger zur Sonne: „Diese gelbe Kugel im Himmel.“ Dennoch könne er sich nicht beklagen. In den vergangenen 25 Jahren habe er sechs Konkurrenten in der unmittelbaren Nachbarschaft überlebt. Aktuell ist noch einer übrig. Etwa 100 Meter von Zamos Laden entfernt hört eine Eisdiele auf den Namen Ice Scream You Scream. Hier kostet die Kugel schon 1,50 Euro. Es sieht nett aus, Gäste sind keine da.

Mit einer schnöden Eiskugel, selbst wenn es „Cheesecake“ ist, holt man 13 Kilometer weiter in Prenzlauer Berg niemand hinter dem Ofen hervor. Auch hier soll es ein „bestes Eis Berlins“ geben,

Hokey Pokey auf der Stargader Straße führt die Toplisten in den Stadtmagazinen an. Es ist Berlins angesagtester Eisladen – und hat von außen so gar nichts mit dem Da Dalt gemeinsam. An Zamos kleiner Eisdiele steht draußen dran, was man drinnen kaufen kann. Beim Corporate Design von Hokey Pokey muss man näher herantreten. Gemessen am Vintage-Interior, ironisch-kitschig vergoldet, könnte der Laden genauso gut Eichenholzmöbel, Karl-Marx-Gesamtausgaben oder Kuckucksuhren verkaufen. An einer Tafel lassen sich die teils exquisiten Sorten ablesen. Neben den Standards ist die „Eispatisserie“ für ihre wechselnden Kreationen bekannt: „Marzipan Blutpfirsich“, „Banane Peanutbutter“ oder „Dänische Lakritze“. Dafür stehen die Kunden regelmäßig Schlange – von welcher Seite, erklärt ihnen eine weitere Tafel.

Mit seinen Variationen ist Hokey Pokey gut aufgestellt. Es geht aber kurioser: Beim diesjährigen „Gelato Festival“ in Berlin gewann die Sorte „Edelweiß Ziegenjoghurt“ einer Eisschöpferin aus Wernigerode. Auf den zweiten und dritten Plätzen fanden sich die „Scharfe Königin“ (Mango, Kokos und Chili) sowie „Insel Passion“ (weiße Schokolade, Passionsfrucht, schwarzer Sesam) ein. Das „Eis des Jahres“, gekürt vom Branchenverband, ist „Bienenstich“.

Da erscheint die „Dänische Lakritze“ (weißes Schokoladeneis mit Starklakritze) fast schon simpel. Der obszön gut aussehende und bestens gelaunte Eisverkäufer meint, die Sorte würde an manchen Tagen mehr, an anderen weniger gekauft. „Mögen Sie Lakritze?“, fragt er sicherheitshalber nach. Der Reporter bejaht. „Das ist schon mal eine gute Voraussetzung. Ich bin gespannt.“ Er drückt die Kugel für 1,80 Euro mit einem Lächeln in die Waffel ein, das man sonst von Currywurstbudenbesitzern kennt, wenn jemand allzu breitbrüstig die „extra scharfe Soße“ verlangt. Das dunkelbraune, cremige Eis mit kleinen Schokoladensplittern und dicken Lakritze-Brocken ist herausfordernd. Der kalt-herbe Lakritze-Geschmack ist interessant, kostet aber Überwindung. Wenn das das beste Eis Berlins sein soll, ist es ein gutes Sinnbild für die Stadt.

Bei diesem Nachgeschmack kann man es nicht belassen. Noch ein Versuch: Nur hundert Meter weiter findet sich auf der Stargarder Straße die Kleine Eiszeit, ebenfalls seit 25 Jahren ein Ostberliner Original. Interieur und Aufmachung versprechen einen Eisgenuss wie zur Nachwendezeit. Aber, Überraschung: Hier variieren die Preise zwischen 1,50 und stolzen 2,50 Euro pro Kugel. „Das sind fünf Mark. Für ’ne Kugel Eis!“, hört der Reporter die Stimme seiner Mutter im Kopf. Die Kleine Eiszeit muss offensichtlich mit den kosmopolitischen Eisdealern in der Gegend mithalten.

Den Höchstpreis bezahlt man für Premiumsorten, etwa „Persische Kerman Pistazie“. Der Reporter lässt sich von der Wortkreation hinreißen. Schon am Vormittag ist der Behälter fast leer gekratzt. Ob das Luxus-Eis viel bestellt wird? „Sehr viel“, erwidert der Verkäufer, „es gibt berlinweit kein Zweites davon.“ Er hat den Reporter beobachtet und den Seitensprung im Hokey Pokey bemerkt: „Sie testen Eis, oder?“. Es verwundert ihn nicht, dass das Lakritzeis von gegenüber wenig süß geschmeckt habe. „Die versuchen, das mit Zucker auszugleichen, aber bei zu viel Zucker läuft das Eis weg.“ Im Fernsehen habe er kürzlich beobachtet, wie ein Kollege Margarine ins Eis mischte. Das könne er seinen Kunden nicht zumuten.

Der gesprächige Händler geht zum Referat über gutes und schlechtes Eis über. Er habe gute Kontakte nach Italien, informiere sich dort über neue Sorten. Nur dort könne man seine erlesene Pistazienkreation noch erwerben. Und: In ein gutes Eis gehöre dennoch nur Sahne, Milch, Zucker, Dextrose und Ei. „Alles andere ist kein Eis mehr.“ Die Kleine Eiszeit versucht, den schwierigen Spagat zwischen Neuberliner Exklusivität und bewährter Tradition zu meistern. Das „beste Eis“ ist eine nostalgische Illusion. Jeder hat eine andere Idee davon, wo es zu finden ist – der Maßstab ist nicht selten die Kindheit. Richtig gut schmeckt es da, wo es wie „früher“ schmeckt.

Die persische Pistazie schmeckt hervorragend. Aber irgendetwas fehlt. Ist es das herzliche, aber bestimmte „Prego“? In Gedanken ist der Reporter wieder bei der schlicht-schönen Schokoladenkugel von Da Dalt. Es fühlt sich schon jetzt an wie eine Kindheitserinnerung.

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