Lass uns knutschen, zu Phil Collins im Club-Remix

Pop Tina Turner, Rod Stewart, Boney M.: Im Radio laufen aktuell etliche Dance-Remixe von Klassikern. Ist das blasphemisch, geschmacklos, unkreativ? Nö, meint unser Musikkolumnist
Ausgabe 03/2022

Genau wie sich ein Kochkolumnist ab und zu mit der Currywurst beschäftigen sollte, muss ein Musikkolumnist hin und wieder Radio hören. Und ich meine nicht das ausgefeilte Radio mit erlesenen B-Seiten, tiefgründigen Interviews und langen Features – ich meine das brutal-jugendliche Popradio, moderiert von verdächtig gut gelaunten Menschen mit einer Hot-Rotation, die sich mindestens alle zwei Stunden fast vollständig wiederholt.

Ohne diese Kanäle hätte ich nie erfahren, dass Heidi Klum einen Song mit Snoop Dogg aufgenommen hat (Chai Tea With Heidi – ich denke mir das nicht aus!) und dass dieser Song auch noch Rod Stewarts Refrain aus Baby Jane beinhaltet. „Muss man wissen“, sagt ein Freund von mir gern über Informationen, die einen eher blöder als schlauer machen.

Klingt schlimm, finden Sie? Sie sind nicht allein: Gleich aus mehrfacher Erfahrung kann ich bestätigen, dass die Moderator*innen im Formatradio ihre Playlists in der Regel selbst kaum ertragen, aber die musikalische Marktforschung hat ermittelt, wo die Leute dranbleiben und wo sie abschalten, und sie scheint ein neues altes Erfolgsrezept entdeckt zu haben: Oldies.

Nicht erst, aber gefühlt gehäuft seitdem der italienische antifaschistische Klassiker Bella Ciao im Club-Remix zum Sommerhit 2018 wurde, nutzen Dance-Produzenten bekannte Zeilen älterer Tracks, wohl in der Hoffnung, damit sowohl das Tiktok-Publikum als auch dessen Eltern abholen zu können. Drei weitere Beispiele aus dem konventionellen Hitradio der Gegenwart: What’s Love Got to Do With It (1984 von Tina Turner, 2020 vom norwegischen Produzenten Kygo abgeschliffen), In the Air Tonight (1981 von Phil Collins, 2021 als I Can Feel It vom kanadischen Produzenten Sickick disco-saniert), Rasputin (1978 von Boney M., 2021 vom britischen DJ Majestic entkernt). Hinzu kommen unter anderem eine Zusammenarbeit von Dua Lipa mit Elton John (Cold Heart, 2021), in der ganze vier Welthits der britischen Legende recycelt wurden, und die Neuauflage von ATBs 9PM als Your Love (Sie kennen es, Sie wissen es nur gerade nicht).

Um bei der kulinarischen Analogie zu bleiben: Alle diese Songs hören sich in etwa so an, als hätte jemand über ein fertiges Gericht reichlich Ketchup verteilt und mit einem Glas Wodka-Energy als gänzlich neue Kreation serviert. Aber die Verachtung des populären Geschmacks ist eine linke Marotte, die oft mehr mit dem Bedürfnis nach Abgrenzung als Kulturkritik zu tun hat. Dieselben Leute, die den Disco-Remix eines Klassikers unerträglich finden, kaufen ohne mit der Wimper zu zucken einen USB-fähigen Plattenspieler im Retro-Design oder stellen sich neu lackierte Möbel aus der Sowjetzeit vom Antikmarkt ins Wohnzimmer, todsicher.

Außerdem: Tun wir mal nicht so, als hätten wir zuerst Otis Reddings Version von Respect gehört, bevor Aretha Frankling den Song zu einem Welthit umformte. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie in Amy Whinehouse’ Song Valerie den Beat des Tracks A Town Called Malice der Band The Jam von 1982 erkannt haben. Und wer bitte hört bei den Worten „And I will always love you“ nicht sofort Whitney Houstons zerbrechlichen Sopran im Kopf – anstelle der Urheberinnenverse von Dolly Parton?

Erlauben Sie mir die These: Nichts daran ist schlimm. Coverversionen, Remixe, Samples – beweisen diese Dinge am Ende nicht nur, wie langlebig ein Klassiker sein kann, selbst in Zeiten des hochindividualisierten Musikgeschmacks und -konsums? Die Vorstellung, dass in diesem Moment ein Teenie zu Tina Turner ein Tiktok-Video aufnimmt oder dass irgendwann in einer postpandemischen Zukunft jemand beim Disco-Remix von Phil Collins knutschen wird – es ist eine schräge Vorstellung, aber auch eine warme. Schräg und warm, wie eine Currywurst.

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