Genau wie sich ein Kochkolumnist ab und zu mit der Currywurst beschäftigen sollte, muss ein Musikkolumnist hin und wieder Radio hören. Und ich meine nicht das ausgefeilte Radio mit erlesenen B-Seiten, tiefgründigen Interviews und langen Features – ich meine das brutal-jugendliche Popradio, moderiert von verdächtig gut gelaunten Menschen mit einer Hot-Rotation, die sich mindestens alle zwei Stunden fast vollständig wiederholt.
Ohne diese Kanäle hätte ich nie erfahren, dass Heidi Klum einen Song mit Snoop Dogg aufgenommen hat (Chai Tea With Heidi – ich denke mir das nicht aus!) und dass dieser Song auch noch Rod Stewarts Refrain aus Baby Jane beinhaltet. „Muss man wissen“, sagt ein Freund von mir gern über Informationen, die einen eher blöder als schlauer machen.
Klingt schlimm, finden Sie? Sie sind nicht allein: Gleich aus mehrfacher Erfahrung kann ich bestätigen, dass die Moderator*innen im Formatradio ihre Playlists in der Regel selbst kaum ertragen, aber die musikalische Marktforschung hat ermittelt, wo die Leute dranbleiben und wo sie abschalten, und sie scheint ein neues altes Erfolgsrezept entdeckt zu haben: Oldies.
Nicht erst, aber gefühlt gehäuft seitdem der italienische antifaschistische Klassiker Bella Ciao im Club-Remix zum Sommerhit 2018 wurde, nutzen Dance-Produzenten bekannte Zeilen älterer Tracks, wohl in der Hoffnung, damit sowohl das Tiktok-Publikum als auch dessen Eltern abholen zu können. Drei weitere Beispiele aus dem konventionellen Hitradio der Gegenwart: What’s Love Got to Do With It (1984 von Tina Turner, 2020 vom norwegischen Produzenten Kygo abgeschliffen), In the Air Tonight (1981 von Phil Collins, 2021 als I Can Feel It vom kanadischen Produzenten Sickick disco-saniert), Rasputin (1978 von Boney M., 2021 vom britischen DJ Majestic entkernt). Hinzu kommen unter anderem eine Zusammenarbeit von Dua Lipa mit Elton John (Cold Heart, 2021), in der ganze vier Welthits der britischen Legende recycelt wurden, und die Neuauflage von ATBs 9PM als Your Love (Sie kennen es, Sie wissen es nur gerade nicht).
Um bei der kulinarischen Analogie zu bleiben: Alle diese Songs hören sich in etwa so an, als hätte jemand über ein fertiges Gericht reichlich Ketchup verteilt und mit einem Glas Wodka-Energy als gänzlich neue Kreation serviert. Aber die Verachtung des populären Geschmacks ist eine linke Marotte, die oft mehr mit dem Bedürfnis nach Abgrenzung als Kulturkritik zu tun hat. Dieselben Leute, die den Disco-Remix eines Klassikers unerträglich finden, kaufen ohne mit der Wimper zu zucken einen USB-fähigen Plattenspieler im Retro-Design oder stellen sich neu lackierte Möbel aus der Sowjetzeit vom Antikmarkt ins Wohnzimmer, todsicher.
Außerdem: Tun wir mal nicht so, als hätten wir zuerst Otis Reddings Version von Respect gehört, bevor Aretha Frankling den Song zu einem Welthit umformte. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie in Amy Whinehouse’ Song Valerie den Beat des Tracks A Town Called Malice der Band The Jam von 1982 erkannt haben. Und wer bitte hört bei den Worten „And I will always love you“ nicht sofort Whitney Houstons zerbrechlichen Sopran im Kopf – anstelle der Urheberinnenverse von Dolly Parton?
Erlauben Sie mir die These: Nichts daran ist schlimm. Coverversionen, Remixe, Samples – beweisen diese Dinge am Ende nicht nur, wie langlebig ein Klassiker sein kann, selbst in Zeiten des hochindividualisierten Musikgeschmacks und -konsums? Die Vorstellung, dass in diesem Moment ein Teenie zu Tina Turner ein Tiktok-Video aufnimmt oder dass irgendwann in einer postpandemischen Zukunft jemand beim Disco-Remix von Phil Collins knutschen wird – es ist eine schräge Vorstellung, aber auch eine warme. Schräg und warm, wie eine Currywurst.
Kommentare 9
Ich kann dies nicht als eine gute Entwicklung ansehen, wenn überall nur noch Karaoke gemacht wird. Wenn nur noch das erlaubt wird, was dem Erhalt von bisherigen konservativen Arbeitsplätzen verhaftet ist und so kreatives abstirbt. Das ist doch geistig neue Armut, Stillstand und kein Fortschritt.
Die ganze Kultur ist ein einziger starrer Cluster und sowas von unbeweglich, da bin ich gerne Untergrund, auch wenn der nicht verstanden wird, da das Starre der Konsumkultur und ihr bewahren an Arbeitsanforderungen als Alltagsmasken taugliches Instrument andere Impulse im Kopf nicht mehr zulassen.
So hat eine Transformation schon stattgefunden und zementiert kreatives denken zu Betonstarre im Kopf. Wir haben uns ja mit der Elektronik und dem 1 und 0 verstehen so in der neuen Licht-Stein-Zeit erzogen, dass es keine anderen Möglichkeiten mehr geben kann.
Refrain: Ich habe einen Betonkopf und den trage ich mit mir herum, weil damit das tanzen beim singen so einfach klingt.
Remix.
https://www.youtube.com/watch?v=fXys1CZ8whU
... back to the basics.
"Bad ass remix"? Foot-dragging... ;-)
"abgeschliffen", "disco-saniert", "entkernt", "recycelt" - treffende Wortwahl.
"Alle diese Songs hören sich in etwa so an, als hätte jemand über ein fertiges Gericht reichlich Ketchup verteilt und mit einem Glas Wodka-Energy als gänzlich neue Kreation serviert." - Ebenso!
Und eine weitere tiefe Wahrheit: "Aber die Verachtung des populären Geschmacks ist eine linke Marotte, die oft mehr mit dem Bedürfnis nach Abgrenzung als Kulturkritik zu tun hat." - Wobei man hier noch diskutieren könnte, ob das Wörtchen "linke" nicht besser durch "salon-", "kultur-" oder "pop-linke" ersetzt und statt "oft" nicht "immer" dastehen sollte.
Ein rhetorischer Trick ist es allerdings, dann am Schluss als Argumente gegen eine Verachtung der Billig-Remixes Coverversionen als Beispiele zu setzen. Es ist lebensgeschichtlich eben so, dass man von den guten Songs nicht immer als erstes das Original zu hören bekommt. (Ganz abgesehen davon, dass es nicht selten durchaus strittig ist, was als "original" zu bezeichnen wäre.) Ich z.B. stehe dazu, dass mir The Clash's I Fought the Law doch noch einen Tick lieber ist als der Song mit den Crickets (den man wohl als das Original bezeichnen müsste) oder die berühmte Fassung mit Bobby Fuller, die ich allesamt aber nicht missen möchte. Dasselbe gilt für eine andere Clash-Nummer - Police On My Back -, deren Original ich ebenfalls liebe, "obwohl" es von einer als Bubblegumpop verschrienen Sixties-Hitkapelle (The Equals, Eddy Grant) stammt. Und der Specials und Amy Winehouse' Monkey Man ist dem der Maytals ebenbürtig. (Man muss natürlich heute immer noch Ska mögen...:-))
Den jungen und noch jüngeren Menschen ist ihr Ketchup + Energydressing zu gönnen. Mich wärmt der Gedanke, dass einige wenige von ihnen sich für das Originalmaterial interessieren werden. Das sind die, deren eigene Produktionen ich mir dann auch wieder gern anhöre.
PS: Was sollen "Möbel aus der Sowjetzeit" sein?
Remix bad ass.
... und dann, nach dem spontanen Umbau des Frankfurter Waldstadions, mischt es die ehrenwerte
Familie
Erhard Adam Schmidkunz, Oberamtsmann,
Darmstadt, Hessen,
ehemalige Residenz des Landgrafen,
auf.
https://www.youtube.com/watch?v=YVTeekrkRO4
... and the man comes in the radio ...
Remix als choreographierte Hot Rotation…
… wurde Geschlechter-übergreifend schnell erkannt, dass sich hier ein schöner und praktischer Einstieg in etwas weit mehr Gestalterisches fand …
... I try and I try and I try ...
war - und ist - für niemanden zufriedenstellend.
https://www.youtube.com/watch?v=XGcLo04aYpM
https://www.youtube.com/watch?v=4zQ68eJfar0
Auf jeden Fall: Remix mit Passion...
'Tun wir mal nicht so, als würden wir Bella Ciao als altes italienisches Volks-Arbeitslied kennen, bevor es mit der Partisanen-Textierung nachher zum "antifaschistischen Klassiker" wurde.'
'Und wer bitte hört bei Nirvanas „Come as you are“ nicht sofort The Damned oder Killing Joke? (Okay, die Älteren vielleicht. Vielleicht ...)'
Natürlich ist die Popgeschichte eines des Recyclings. Ach, die Musikgeschichte überhaupt. Nur, aus Altem Neues zu machen oder schon Dagewesenes zu interpretieren ist eben auch immer noch eine Kunst. Allein Tonspuren mit technischem Gerät zu zerhacken oder zu enhancen (ui, schlimmes Denglisch) ..., nunja, ist vielleicht noch nicht gleich Kunst.
Collage: Wie wird montiert? (Kreativ, als Batikkurs für möchtegern Cyber-Punks) Was wird montiert? Symbole für Gefühle irgendwie((politisch) gewesen) zu seinDas hat doch alles einerlei Logik: Für das echte gibt es einen Ersatz (Jeder hält etwas anderes für echt: Ich Beethovens späte Streichquartette, andere eben Death-Rockabilly-Hilli-Hop-Metal-Trash-Maiden.)
Meine Frage ist immer:Ist es gut (= gutngemacht) als das, was es (wohl) vorgibt zu sein: Ein E-Diskant, der Lieschen Müllers Vorstellung der Aura des echten Gefühls dessen, was sie für Klassik hält, erfolgreich aktiviert. Da ist der Artikel m.E. dann doch hilfreich.
Gruß, F.L.