Nahtoderfahrung

Biografie Benjamin Maack hat ein schmerzhaftes Buch über seine Depression geschrieben
Ausgabe 10/2020

Es gibt Bücher, die bräuchten einen Warnhinweis. Auf Benjamin Maacks Buch Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein sollte einer stehen. Er muss das beim Schreiben gemerkt haben, schließlich ist eins der knapp 200 Mini-Kapitel ein „Disclaimer“, eine Art Haftungsausschluss, Maack schreibt lakonisch: „Hier wird am Ende übrigens nicht alles gut. (…) Wenn sie Tipps und Tricks für den Umgang mit Depressionen suchen, legen Sie dieses Buch auch weg. Und melden Sie sich, wenn Sie etwas gefunden haben, das wirkt.“ Wenigstens ist Maack freundlich und umsichtig genug, vorzuwarnen. Auf Seite 50 von dreihundert, wo sich alles noch in Grenzen hält.

Depressionsbücher gibt es viele, sie sind selten schlecht, weil sie nie gleich sind, weil die Depression nicht eine Erkältung mit dem immer gleichen Krankheitsverlauf ist, sondern die Biografie eines Menschen zur Grundlage hat. Auf einmal war jede Lebensentscheidung verkehrt. Viele Bücher kommen zustande, wenn es den Betroffenen besser geht und sie wieder schreiben können. Maacks Buch ist die radikale Introspektion seiner zweiten depressiven Episode. Nicht aus einer kämpferischen „Geschafft“-Perspektive heraus, sondern aus dem Herzen der schwarzen Gedankenwelt. Die knapp 200 Kapitel entsprechen 200 Tagen. Einige finden außerhalb, die meisten innerhalb der Psychiatrie statt. Maack chronologisiert das Elend, von der Fahrt in die Klinik bis zur Entlassung. Am Ende ist er zwar dem „Beinahetod“ entronnen, aber der Autor löst seine Vorhersage ein: Gut ist am Ende noch lange nichts.

Nur ein Satz. Oder keiner

Dabei war der Journalist und Schriftsteller Maack eigentlich auf einem tollen Weg. Er wurde gerade zum Ressortleiter befördert, hatte zuvor schon Erzählungen, Gedichte und einen Roman veröffentlicht. Dann schlug die Krankheit zu. Nicht plötzlich, sondern schleichend, sodass ihm noch der Weg in die Psychiatrie unwirklich vorkam.

Maack merkt an, dass das Buch während des Klinikaufenthalts eher beiläufig entstanden ist, aus losen Notizen, die er während der Tortur zwischen Schlaflosigkeit, Leere und Neuroleptika zusammenstellte. Er lässt zu, dass der Leser ihn beim depressiven Denken beobachten kann. Ein Denken, das den Namen kaum verdient, da die morbide Schlussfolgerung immer die gleiche ist, nur die Argumentführung dahin anders. Dabei gelingt ihm etwas Außergewöhnliches, was sein Buch von vielen guten Büchern über Depressionen abhebt und zu einem geradezu lehrreichen Schatz macht. Durch das Aufschreiben der vermeintlich trivialsten Kleinigkeiten nähert sich das Buch einer Beschreibung an, die eigentlich unmöglich ist: Der akut Depressive kann seinen Zustand nicht erläutern, weil er sich nicht wie eine Krankheit anfühlt, sondern wie Normalität. „Als ich wieder gesund bin, will ich Friederike erklären, wie Depressionen sind. Aber Depressionen sind geschickt. Ist man gesund, kann man sich nicht mehr daran erinnern, wie es war, krank zu sein. Und ist man krank, kann man sich nicht vorstellen, je wieder gesund zu werden.“ Sein gesundes Ich und sein krankes Ich sind zwei verschiedene Menschen in einer Hülle, die sich nie begegnen. So unwirklich sich der Weg in die Klinik anfühlte, so unwirklich ist es auf einmal, wieder zu Hause zu sein.

In homöopathischen Dosen verabreicht Maack dem Leser schonungslos dieses katastrophal rationale Denken. Auf manchen Seiten befragt er sich ausgiebig selbst, erzählt. Auf anderen steht nur ein einziger Satz oder nichts. Es ist das Nichtgeschriebene, bei dem der Leser tief durchatmen muss, weil Maack ihn ahnen lässt, was es bedeutet. Der Leser bekommt eine Ahnung, wie gnadenlos dieser erkrankte Geist argumentiert, wenn er noch dem Kranken in der Klinik nicht zugesteht, wirklich krank zu sein, unwürdig einer Behandlung: „Also sage ich auch noch, dass das keine richtigen Selbstmordgedanken sind, also keine richtigen richtigen. Manchmal würde ich einfach denken, dass ich nicht mehr kann und dass es vielleicht besser wäre, nicht mehr da zu sein.“ Es ist Tortur aus zweiter Hand, wenn Maack schreibt, wie sein Kind die Krankheit nicht versteht, aber fühlt, dass mit Papa etwas nicht stimmt. Und wenn das Einzige, was den Patienten vom Äußersten abhält, nicht die Angst ist, sondern lediglich der Gedanke, wer die „Sauerei“ wegmachen muss.

Ständige Introspektion

Gelegentlich wird er humorvoll, etwa wenn Maack im Klinikfahrstuhl rätselt, in welcher Abteilung die Insassen aussteigen werden: Psychosen? Zwangsstörungen? Angststörungen? Aber der Humor schmerzt, wenn der Leser erfährt, wie nah, wie real über all den guten und schlechten Tagen immer der Tod schwebt, wie verzweifelt das gezwungene Lächeln wirkt.

Weiter weg von Unterhaltung könnte das kaum sein, was der leichtfüßige Titel nicht im Geringsten vermuten ließe. Und doch sollte das Buch dringend gelesen, besprochen werden. Jenen, die das Thema psychische Krankheiten tabuisieren, verharmlosen oder schlicht gern weit weg von sich schieben würden, wird der fragmentarische Stil und die ständige Introspektion wie eine unnötige Lesequal vorkommen. Jene, die wissen oder wissen möchten, wie ein Depressiver denken kann, werden etwas lernen, das viel zu wenig gelehrt wird in einer Welt, in der psychische Krankheiten mehr und mehr zum Alltag werden, in der Menschen mangels Verständnis sterben. Und jene, die betroffen sind oder waren, werden staunen, wie nah Maack durch seinen Stil an das heranreicht, was er bereits am Anfang des Buches als quasi unmöglich skizziert. Vielleicht werden sie sich verstanden fühlen, was ausgesprochen selten und umso wertvoller wäre. Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein war zweifellos ein Kraftakt. Dichter lässt sich kaum beschreiben, wie es einem geht, mit dem nichts mehr geht.

Info

Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein Benjamin Maack Suhrkamp 2020, 334 S., 18 €

Hilfe bei akuten Krisen bietet jederzeit die Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111 oder auf telefonseelsorge.de

Langgliedrige Figuren

Die Bilder dieser Ausgabe stammen vom Illustratoren-Duo ZEBU, das sich 2015 in Berlin gründete. Die beiden Künstler*innen sind gebürtige Berliner, sie lernten sich in der Graffiti- und Urban-Art-Szene kennen. Lynn Lehmann studierte an der Kunsthochschule Weißensee, Dennis Gärtner an der Universität der Künste. Mehr Info: www.z-e-b-u.com

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