Notwendige Symbolik

Wohnungsmangel Neun leerstehende Gebäude wurden am Sonntag von Aktivisten in Berlin besetzt. Mittlerweile sind alle wieder geräumt. Einen wichtigen Effekt hat die Aktion dennoch erzielt
Die Transparente sehen vielleicht nach Revolutionsromantik aus. Doch es geht um Notwendigkeiten, um "Wohnungen denen, die sie brauchen"
Die Transparente sehen vielleicht nach Revolutionsromantik aus. Doch es geht um Notwendigkeiten, um "Wohnungen denen, die sie brauchen"

Foto: Imago/Christian Ditsch

Im Februar machte ein bemerkenswerter Tweet die Runde. „Ich will ja nicht alarmistisch klingen,“ schrieb der Jurist Maxim Bönnemann, „aber möglicherweise gerät das Wohnungsproblem in den Großstädten langsam außer Kontrolle.“ Er teilte ein Absageschreiben auf eine Wohnungsbewerbung. Darin verkündet der Vermieter sein Bedauern, es hätte „1.483 Interessenten“ gegeben, „aber nur eine Wohnung“. Die begehrte Wohnung maß 65 Quadratmetern, lag in Berlin Prenzlauer-Berg und war zu einer Kaltmiete von 599 Euro zu haben. Knapp 9 Euro pro Quadratmeter, bundesweiter Durchschnitt, aber für Ballungsräume mittlerweile ein Schnäppchen.

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Unter diesen Umständen, so könnte man meinen, müsste jeder Quadratmeter in der Hauptstadt ausgenutzt sein – zumal viele tausend Menschen, die sich die hohen Mietpreise nicht oder nicht mehr leisten können, wohnungslos sind. Falsch gedacht. Noch vor wenigen Jahren standen laut Berliner Mieterbund 100.000 Wohnungen leer. Durch Sanierungs- und Modernisierungsarbeiten entstünde diese „normale Fluktuation“, wie es Andrej Holm, Berlins ehemaliger Baustaatssekretär, nannte.

Ist das wirklich so normal? In der Bornsdorfer Straße 37b in Neukölln lässt der Eigentümer ein Gebäude seit etwa drei Jahren leerstehen. Das ist deutlich länger, als jede Sanierung oder Modernisierung üblicherweise dauert. Aktivisten der Initiative „#besetzen“ hat das gereicht. Sie nahmen vergangenen Sonntag das Stadtfest „Karneval der Kulturen“ zum Anlass und erklärten diesen kurzerhand zum „Karneval der Besetzungen“. Neun leerstehende Gebäude nahmen sie ein. Aus den Fenstern in der einst leeren „Borni“ hingen Transparente. Die alte Besetzerformel „Häuser denen, die drin wohnen“, stand auf einem. Ihrer Ansicht nach ist der Leerstand angesichts des Mangels obszön und vor allem ein Resultat von Spekulationen. Spekulationen mit der Ware „Wohnraum“, die ihrer Meinung nach gar keine sein dürfte.

Die Räumung ist kein Misserfolg

Das Gebäude in der Bornsdorfer Straße ist besonders brisant. Er gehört keinem privaten Investor, sondern dem kommunalen Unternehmen „Stadt und Land“. Eben dieses Unternehmen erklärte sich noch am Sonntag der Besetzungen zu Verhandlungen bereit. Selbst Berlins Staatssekretär für Bauen und Wohnen kam auf die Besetzer zu. „Es waren sogar schon Quadratmeterpreise im Gespräch, sechs Euro pro Quadratmeter!“, sagt der Pressesprecher der Borni-Besetzung mit einer Mischung aus Belustigung und Fassungslosigkeit.

Denn während drinnen noch verhandelt wurde, saß an anderer Stelle, einer Sprecherin der Neuköllner Besetzer zufolge, die Unterschrift unter dem Räumungsbefehl. Die laufenden Verhandlungen brachen jäh ab. Alle besetzten Häuser, inklusive der „Borni“, waren gemäß einer alten Polizeiverordnung, der „Berliner Linie“, innerhalb von 24 Stunden wieder ordnungsgemäß leer.

Für die Besetzer ist das ein Rückschlag, aber kein Misserfolg. Längst waren Anwohner und Neugierige an die Standorte in Berlin gekommen, um einen Blick auf die Fassaden zu werfen, von denen die Transparente hingen. Längst sind die Hausnummern, in denen unverschämt attraktiver Wohnraum seit Jahren unbewohnt ist, bundesweit bekannt geworden.

Die Parolen auf den Bannern konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hausbesetzungen im Jahr 2018 keine radikale Angelegenheit mehr sind. Hausbesetzer haben heute Pressesprecher und verhandeln mit Eigentümern und Behörden. Weder Revolutionsphantasien noch „Groll auf Besserverdienende“, wie es in der offiziellen Pressemitteilung hieß, treiben sie an. Es ist notwendige Symbolik. Aus „Häuser denen, die drin wohnen“ ist „Häuser denen, die sie brauchen“ geworden.

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