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Analphabetismus Wie kommen Menschen klar, die schlecht lesen und schreiben können – und woran erkennt man das?
Ausgabe 22/2019

Es sind mehr als sechs Millionen, die in diesem Land nicht lesen und schreiben können. Oder nur ein bisschen, nur indem sie sich Worte als Bilder merken, zum Beispiel. Das geht aus der Anfang Mai von der Uni Hamburg durchgeführten Studie „LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität“ hervor. Es betrifft also knapp zwölf Prozent der Bevölkerung. Damit liegen wir Deutschen weltweit im Mittelfeld.

Was aber bedeutet: „nicht richtig“ schreiben? Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das die Studie gefördert hat, versteht darunter jene Menschen, deren „Lese- und Schreibkompetenzen für eine volle berufliche, gesellschaftliche und politische Teilhabe nicht ausreichen“.

Die aktuelle Studie umfasste 7.200 „deutschsprechende“ Erwachsene, es sind darunter auch solche, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist. Die Zusammensetzung der Stichprobe lässt Rückschlüsse auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland zu. Zuletzt wurde die Erhebung im Jahr 2018 durchgeführt, seither sind die Zahlen zurückgegangen. Damals waren es noch 7,5 Millionen Menschen, die von Lese- und Schreibschwächen betroffen waren. Die sinkenden Zahlen ergeben sich aber nicht daraus, dass „gering literalisierte Menschen“, wie sie genannt werden, ihre Fähigkeiten verbessert hätten. Vielmehr, so Studienleiterin Prof. Dr. Anke Grotlüschen, würden ältere Menschen aus der Stichprobe fallen, während neue Volljährige mit besseren Lese- und Rechtschreibkenntnissen nachrücken. Diese konnten von der Bildungsoffensive in den 1970ern profitieren, zudem sind die öffentlichen Kampagnen besser geworden. Aber wo hört geringe Sprachkompetenz auf und wo fängt Analphabetismus an? Wie navigieren Menschen mit Lese- und Schreibschwäche durch die Hochleistungswelt? Und wie kann ihnen geholfen werden? Vier Protokolle.

Dumm und blöd

Ich bin schon in der ersten oder zweiten Klasse nicht mitgekommen. Als ich 1965 in die Schule kam, da war das kein Thema. Ich wurde in die letzte Reihe gesetzt oder gar nicht erst unterrichtet. In Deutsch wurde mir gesagt: „Mal ab, was da steht.“ Bei den Hausaufgaben habe ich geweint. Auf dem Bauernhof in Unterfranken, auf dem ich groß geworden bin, da spielte Lesen oder Schreiben keine Rolle. In dieser ländlichen Umgebung wurde ich oft eingeschüchtert: „Du bist dumm und blöd.“ Ich arbeitete dann 40 Jahre lang als Elektrikerin. Man musste in den 1980er Jahren in Fabriken nicht lesen und schreiben. Ich habe meine Schwäche mit meiner Arbeitskraft wettgemacht, habe Leistung gebracht und wurde Führungskraft.

Mir konnte keiner was vormachen, solange es mündlich war. Irgendwann musste ich Protokolle schreiben und Mails lesen. Ich habe sie abfotografiert und abends meinem Mann gezeigt, der mir half. Dann habe ich mich auf der Arbeit jemandem anvertraut, der mir sagte: „Ist ja nicht so schlimm.“ Dann aber wurde ich gemobbt: „Die macht so einen Job und kann noch nicht mal lesen und schreiben.“ Ich verlor meinen Job. Vor vier Jahren habe ich mich „geoutet“, bin in die Volkshochschule gegangen und habe da meinen Hauptschulabschluss nachgeholt.

Heute lese ich nach Bild. Wenn ich das Wort sehe, weiß ich: „will“ wird mit Doppel-l geschrieben. Anderes lerne ich auswendig. Gerade lese ich die Autobiografie von Michelle Obama, jede Seite dreimal.

Jutta Schmidt, 65, Elektrikerin und Analphabetin, Lüneburg

Messenger kann helfen

Analphabeten, die lesen und schreiben lernen möchten, können sowohl mit gedruckten Büchern als auch mit E-Books arbeiten. Aber die neuen
Medien erleichtern ihnen manches: Die leben von Kurzformaten – und Analphabeten können kleine Twitter-Nachrichten leichter lesen als ein Buch.

In den digitalen Medien spielt außerdem die Rechtschreibkompetenz eine geringere Rolle. Die Hemmschwelle, SMS und Chats zu schreiben,
ist einfach geringer. Das verbessert die Situation der Analphabeten. Man braucht keine Angst vor Fehlern zu haben, keine Scheu, sich zu outen. Auch die Dialogform bei WhatsApp kann eine Hilfe sein, wenn man das Smartphone bedienen kann. Messenger-Dienste übermitteln auch gesprochene Sprache, dafür muss man nur einen Knopf drücken. Seit Ende des 19. Jahrhunderts, seit es die Schallplatte gibt und damit gesprochene Sprache transportiert wird, sind wir immer weniger auf die geschriebene Sprache angewiesen.

Die neue LEO-Studie zeigt, dass der Anteil der Analphabeten die eine nichtdeutsche Herkunftssprache haben, bei 47 Prozent liegt, fast der Hälfte. Das hängt mit der spezifischen Migration in Deutschland in den 1950er/60er Jahren zusammen. Damals wurden überwiegend ‚Gastarbeiter‘ mit niedrigem Bildungsstand geholt – das wurde über Generationen weiter getragen. Heute macht es der Wandel unserer Arbeitswelt, Büro statt Hochofen, notwendiger, das Lesen und Schreiben zu lernen und entsprechende Kurse zu besuchen.

Jost Schneider, 52, Leseforscher und Professor, Uni Bochum

Beschreiben, wie es ist

Der Begriff „Analphabet“ oder „funktionaler Analphabet“ ist schwierig, weil er oft nicht verstanden wird. Ein Analphabet ist einer, der nicht lesen und schreiben kann. Funktionaler Analphabetismus bezeichnet Menschen, die durchaus lesen und schreiben können – aber es reicht eben nicht. Oft wird das in den Medien darauf reduziert, dass die Betroffenen gar nicht lesen und schreiben können. Das ist bei uns ein ganz geringer Prozentsatz. Wir haben uns also dafür entschieden, auf der Website den Begriff nicht zu benutzen und generell eher eine für alle verständliche Sprache zu verwenden.

In der LEO-Studie gibt es die Ansage, nicht mehr von funktionalen Analphabeten zu sprechen, sondern von „Menschen mit geringer Literalität“. Das hat Vor- und Nachteile. Es wird durch einen Begriff ersetzt, mit dem auch keiner etwas anfangen kann – schon gar nicht die Betroffenen. Deswegen ist es für uns noch immer die beste Variante, es so zu beschreiben, wie es ist: Menschen, die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben.

Dass es sie gibt, hat viele Gründe. Es ist ein Zusammenspiel aus Gesundheit, familiären, schulischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Und die bedingen sich. Wenn ich in der Familie schlechte Startbedingungen habe, bin ich in der Schule nicht aufnahmefähig. Wenn ich in der Schule rausfalle, werde ich gemobbt. Und wenn das über eine längere Zeit so geht, bekomme ich gesundheitliche Probleme und so weiter. Pauschalisieren lässt sich da natürlich nichts, es sind vielfältige Ursachen.

Urda Thiessen, 55, Leiterin „Lesen und Schreiben e. V.“, Berlin

Glücksrad und Jobcenter

Wir fahren mit unserem ALFA-Mobil-Sprinter von Mecklenburg-Vorpommern bis nach Bayern. Wir wollen das mitwissende Umfeld von Betroffenen sensibilisieren, Kollegen, Geschwister, Nachbarn. Wir bauen unsere Koffer-Theken, den Pavillon und das Buchstaben-Glücksrad auf, das ist immer der Blickfang. Wenn jemand ein E dreht, dann spielen wir mit der Person „Stadt, Land, Fluss“ mit E und gucken: Wie weit bist du mit Lesen und Schreiben?

Oft erzählen Betroffene von Schwierigkeiten bei der Jobsuche (es sind viele Analphabeten unter den Arbeitslosen). Wir stehen auch oft vor Jobcentern. Freunde, Bekannte oder Familie erzählen von dem Versuch, diese Menschen dazu zu bewegen, in Volkshochschulen zu gehen. Als Erwachsener braucht man eine Motivation, einen Anlass und Kontakte. Die vermitteln wir. Es ist bei uns immer eine betroffene Person dabei, die von ihren Erfahrungen erzählt. Das ist sehr wichtig. Gewalterfahrungen, Vernachlässigung, auch das können Ursachen für Lese-und Schreibschwächen sein. Es muss an Schulen mehr Sensibilisierung und Unterstützung geben. Sonst mogeln sich Betroffene durch. In den Kursen spüren Erwachsene dann zum ersten Mal: Sie sind nicht allein. Man kann das aufholen, was in der Kindheit verpasst wurde. Eine Frau sagte mir bei einer unserer Aktionen: „Ich war früher nie wählen. Jetzt kann ich wählen gehen, weil ich weiß, wie ich den Bogen ausfüllen muss.“

Nicole Pöppel, 35, Mitarbeiterin ALFA-Mobil, bundesweit

Alle Protokolle von Maxi Leinkauf und Konstantin Nowotny

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