Schmuddelkindisch

Aufklärung Brauchen wir echt eine Therapeutin, um unser kompliziert gewordenes Liebesleben zu meistern?
Ausgabe 38/2018
Symbolbild
Symbolbild

Bild: Presse/der Freitag

Knifflig ist es, über Sex zu schreiben. Eine der interessantesten Thesen aus Michel Foucaults Geschichte der Sexualität lautet, dass die liberale Gesellschaft bei Weitem nicht so liberal ist, wie sie sich aufführt – besonders beim Thema Sex. Statt eine Sprache zu entwickeln, die das Reden über das Tabuthema frei und authentisch möglich macht, bildete sich ein ganzes Vokabular für das Nicht-Reden über Sex heraus, für das Tabuisieren, Verfloskeln und Verbildsprachlichen. Das prüde viktorianische Zeitalter haben wir nur scheinbar überwunden. Sex ist gesamtgesellschaftlich noch immer ein Schmuddelthema. Nur: Wie schmuddelig es ist, das diskutieren wir jetzt so liberal wie nie.

Es verdient also Respekt, wenn sich Menschen der Herausforderung stellen wollen, über Sex zu schreiben. Dass Heike Melzer, Sexualtherapeutin in München, dazu geeignet ist, lässt der Verlag den Leser schon auf dem Buchcover wissen: Unüblicherweise druckt er ihren akademischen Titel „Dr. med.“ gleich mit rauf. Die Website der Medizinerin lässt uns im Gegenzug wissen, dass sie „Expertin für alle heiklen Fragen des Lebens im Bereich Sexualität, Partnerschaft und Beruf“ ist. Kann eigentlich nichts schiefgehen, oder?

Scharfstellung heißt das Buch, dessen Illustration ein vom Weichzeichner getrübtes Herz in Überblendung zur scharfen Grafik zeigt. „Eine Sexualtherapeutin spricht Klartext“, kündigt die Pressemitteilung an. Nun wird also aufgeräumt mit all dem Floskelhaften, dem Nicht-Reden über Sex – von einer, die es ja bestmöglich beherrschen müsste. Raus aus der Metapher, rein ins Konkrete!

So schnell, wie sich bei dieser Vorstellung die libidinöse Erwartung des Lesevergnügens langsam steigert, so schnell wird sie enttäuscht. Melzer unternimmt einen Streifzug durch alle Sphären moderner Sexualität, von Pornos über Dating bis zur Prostitution, und leitet aus ihren Praxiserfahrungen und diversen Statistiken generelle Thesen ab. Diese sind vor allem für jene neuartig, die die letzten 15 Jahre im digitalen Dornröschenschlaf verbracht haben und keinerlei Schimmer davon haben, wie eine Dating-App zur Flüchtigkeit anregt oder wie übervoll die Überfülle auf bekannten Pornoseiten tatsächlich ist. Scharfstellung ist zunächst eine Klarstellung, saubere, aber nüchterne Recherchearbeit, lässt aber reizvolle Schärfe vermissen.

Auch die konkreten Tipps, wie mit den Veränderungen umzugehen wäre, die die neue sexuelle Revolution mit sich bringt, wirken nicht immer so, als bräuchte man jemanden vom Fach, um auf sie zu kommen: Der Ehemann verbringt seine ganze Freizeit Porno guckend im Keller, während die Gattin seit der Heirat stark zugenommen hat? Dann sollte er mit den Pornos aufhören und sie eine Diät machen. Verlässt man den Nahbereich, bleibt die Diagnose, dass Phänomene wie „Pornografie, Sex-Toys, Sexarbeit und Casual Dating“ unsere Triebe zwar scharfstellen, uns aber „in die Verantwortung, mit den dazugewonnenen Freiheiten konstruktiv umzugehen“, entlassen.

Richtig abtörnend wird das Buch bei der Sprache. Nun ist es zwar nicht ganz fair, einer Sexualtherapeutin vorzuwerfen, nicht den feinsten literarischen Ausdruck zu verwenden. Aber rechtfertigt das jegliche Schandtat? Beispiel: “Das Wollen mal ausgeklammert, läuft es bei Frauen mit etwas Gleitcreme ja in der Regel wie geschmiert.“

Dirty Talk mit Gehhilfe

Auch darüber hinaus lässt sich Melzer leider viel zu oft zu völlig inspirationslosen verbalen Krücken wie „nackten Tatsachen“ oder „ausgestreckten Fühlern“ hinreißen, als dass die Lektüre noch erträglich bliebe. „Klartext“ offenbart das Buch leider nur in ganz seltenen lichten Momenten. Die meiste Zeit hangelt es sich an kaschierenden Floskeln entlang, um bloß nicht über das Sexuelle sprechen zu müssen.

So bekommt man am Ende das Gegenteil von dem, was auf dem Cover steht: eine Analyse, die, statt messerscharf zu sein, bis ins Unerträgliche mit Phrasen verunstaltet worden ist. Vielleicht ist das aber nicht Schuld der Autorin. Vielleicht kann man auf deutsch einfach nicht über Sex schreiben.

Info

Scharfstellung. Die neue sexuelle Revolution Heike Melzer Klett-Cotta 2018, 240 S., 16,95 €

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