Walter Benjamins kleine Bestie

Zufall? In New York wird an mehreren Orten zugleich ein fast schon vergessenes Juwel aus der Frankfurter Schule wiederentdeckt
Ausgabe 14/2017
Die Pariser Passagen der 1930er Jahre waren für Walter Benjamin (rechts) ein mythologischer Ort
Die Pariser Passagen der 1930er Jahre waren für Walter Benjamin (rechts) ein mythologischer Ort

Fotos: Musée Carnavalet/Roger-Viollet/The Image Works, Germaine Krull/Museum Folkwang (r.)

Eine Ironie vieler Meisterwerke der Weltliteratur ist es, dass sie nie fertig wurden. James Joyces Finnegans Wake ist so eins, oder Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit. Walter Benjamin, der Proust verehrte, nannte dessen Werk eine „unkonstruierbare Synthesis“ und „unfaßlich“. Das darf nicht falsch verstanden werden. Er liebte Prousts modernes Epos, entdeckte in dessen Stil eine „Struktur des Erwachens“, die er für revolutionär hielt. Dass sich das Buch ein wenig dagegen sträubt, gelesen zu werden, faszinierte ihn.

Und wie bei Proust tauchen Schlafen und Erwachen auch bei Benjamins Lebenswerk, dem Passagen-Werk, auf. Anfangs wollte er nur ein kurzes Essay über das Paris des 19. Jahrhunderts schreiben. Fünfzig Seiten sollten es werden. Dann fesselte ihn die Arbeit 13 Jahre an die Stühle der Nationalbibliothek in Paris, wo er nach seiner Flucht vor der Judenverfolgung Hitlerdeutschlands im Exil lebte. An seinen Freund Gerhard Scholem schrieb Benjamin 1928, dass sein Versuch „umfänglicher ausfallen könnte, als ich es dachte“. Und im selben Jahr noch schrieb er an denselben: „Die Arbeit über Pariser Passagen setzt ein immer rätselhafteres Gesicht auf und heult nach Art einer kleinen Bestie in meine Nächte, wenn ich sie tagsüber nicht an den entlegensten Quellen getränkt habe. Weiß Gott, was sie anrichtet, wenn ich sie eines Tages frei lasse.“

„Freigelassen“ hat Benjamin sie nie. Die Bestie wurde aus seinem riesigen Nachlass rekonstruiert, Jahrzehnte nach seinem Tod. Heute ist das Passagen-Werk in seiner deutschen Ausgabe über 1.000 Seiten stark. Benjamin hatte es jahrelang ernährt und bis zum Schluss nicht aus der Hand geben können, als wäre es sein Kind. Oder? Als die Wehrmacht in Frankreich einmarschierte und der Faschismus ihn nun auch dort einzuholen drohte, wollte er Europa ganz verlassen.

Mit einem kranken Herz plante er die Flucht über Spanien in die USA. In seiner Aktentasche trug er sein „Allerwichtigstes“. Vielleicht steckte darin der Schlüssel zum Geheimnis des Passagen-Werks? Als er an der spanischen Grenze befürchtete, nach Deutschland ausgeliefert zu werden, soll er sich das Leben genommen haben, angeblich mit einer Überdosis Morphin. Das einzige Zeugnis dafür ist ein kurzer Abschiedsbrief an seinen Freund Adorno: „In dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu beenden.“ Seine letzten Stunden liegen im Dunkeln, das Manuskript ist bis heute verschollen.

Kein richtiges Buch

Das Passagen-Werk ist Fragment geblieben, aber sollte es überhaupt jemals fertig werden? Benjamin hegte, wie seine Kollegen und Freunde der Frankfurter Schule, eine Abneigung gegen das abgeschlossene philosophische System. Sie bevorzugten einen aphoristischen und essayistischen Stil. Doch selbst in diesem Vergleich wirkt Benjamins gewaltige Materialsammlung ungezähmt. Es ist – im besten Sinn – überhaupt kein „richtiges“ Buch.

Der Großteil des Textes besteht aus Zitaten, die Benjamin in den Archiven der Pariser Nationalbibliothek sammelte: Kataloge, Handzettel, Reklametafeln, Sprüche, Lieder, Zeitzeugenberichte. Knapp die Hälfte des Buches ist selbst in der deutschen Ausgabe auf Französisch. Benjamin, der fließend Französisch sprach, übernahm alles im Original. Nur hin und wieder kommentiert er das Gefundene. Die insgesamt 36 Konvolute tragen Namen wie „Traumhaus, Museum, Brunnenhalle“ oder „Anthropologischer Nihilismus“. Was der Autor genau darunter verstand, muss der Leser herausfinden, er muss das Buch im Kopf selbst schreiben. Eine Unmöglichkeit – und doch ein geheimnisvoller Reiz, ein Rätsel, das es zu lösen gilt.

Bis heute treibt dieser Reiz die Deutung an. „Es ist das beste Buch, was ich je gelesen habe“, sagt Kenneth Goldsmith, Autor und Dichter aus New York, im März auf einer Podiumsdiskussion in der New Yorker Public Library. Dann korrigiert er sich: „Natürlich habe ich es nicht ‚gelesen‘. Es ist das beste Buch, mit dem ich je interagiert habe.“ Zusammen mit David Kishik, Professor für Philosophie, sprach er zum Passagen-Werk. Beide Autoren haben es fertiggebracht, unwissend voneinander ein ähnliches Buch zu schreiben.

Goldsmith schrieb das Buch Capital, das wie das Passagen-Werk aufgebaut ist, jedoch statt dem Paris des 19. Jahrhunderts das New York des 20. Jahrhunderts zum Thema hat. Kishik hingegen stellte sich vor, dass sich Benjamin 1940 nicht das Leben nahm, sondern die Flucht in die USA erfolgreich überstand und ein neues Leben in New York begann. Folgerichtig heißt es über sein Buch The Manhattan Project: „Eine Studie über ein Buch, das niemals geschrieben wurde.“

Kishik promovierte an der New Yorker New School for Social Research, jener Uni, die einst so vielen deutschen Akademikern Zuflucht gewährte, als die Nazis die Macht übernahmen. Hannah Arendt war hier, genau wie Erich Fromm, der auch zur Frankfurter Schule gezählt wird. Ist etwas dran an Kishiks Fiktion? Wollte Benjamin womöglich, als er nach Amerika aufbrach, zu seinen Freunden und Kollegen an die Exiluniversität? Sein Passagen-Werk jedenfalls feiert in der Uni an der Fifth Avenue derzeit ein Comeback. In diesem Semester gibt es einen Kurs, der Benjamins Passagen mit Edgar Allan Poe vergleicht. In einem anderen Kurs wird Ulrich Lehmanns Buch Tigersprung gelesen. Der gebürtige Deutsche Lehmann unterrichtet seit 2016 an der New School. In seinem Buch zweifelt er an der These, dass Benjamins Werk jemals „fertig“ werden sollte.

Damit hören die Schickungen nicht auf. Von März bis August läuft im New Yorker Jewish Museum der Versuch einer Kombination von Benjamins Buch mit moderner Kunst – die Adorno zum Teil, wie den Jazz und den Kinofilm, verfluchte. Benjamin widersprach in dieser Hinsicht seinem Freund. Er vertrat die Auffassung, dass die Massenkunst ein emanzipatorisches Potenzial habe. In Rundfunk und Bewegtbild sah er Möglichkeiten für das ersehnte Proustsche „Erwachen“, den revolutionären Funken, der überspringen müsse. Zwar waren die Frankfurter Schüler zweifellos Marxisten, aber die Hoffnung, dass die Revolution durch den Klassenkampf beinahe von alleine geschehen würde, hatten sie im Angesicht des Faschismus fahren lassen.

Ein Gespenst geht um

Vom Originaltext Benjamins ist im Jewish Museum nur wenig zu sehen, dafür Artefakte seiner Analyse: Mode und Medien, Architektur und Automatismus. Kenneth Goldsmith taucht ebenfalls wieder auf, die Wände sind mit seiner Poesie versehen. Ein paar Jugendliche fotografieren mit dem Smartphone eine Bildfolge, auf der ein Foto unzählige Male reproduziert wurde, bis der Qualitätsverlust die Aufnahme zur Unkenntlichkeit verrauscht. Es handelt sich um den Buchdeckel einer der vielen postumen Ausgaben von Benjamins wohl bekanntestem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. „That’s cool“, sagt einer der Teenager, und wird das Bild vermutlich auf Instagram posten. In jenem Aufsatz schrieb Benjamin einst: „Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.“ Obgleich die Ausstellung liebevoll arrangiert ist: Es ist gut, dass dem Autor jener Zeilen der Anblick erspart blieb.

Vor fast 40 Jahren wurde Benjamins Buch zusammengetragen und veröffentlicht, 2002 erschien erstmalig die Übersetzung auf Englisch, The Arcades Project heißt es hier. Lange hat sich kaum jemand damit beschäftigen wollen, Kritiker hielten es sogar für überschätzt. Nun geht es um wie ein Gespenst – um es mit Marx zu sagen – in New York. Es spukt durch die Avenues und Häuserschluchten und manifestiert sich hier und da in einem Seminarraum, einer Ausstellung, einem neuen Buch. Benjamin, der so kurz vor der rettenden Überfahrt in die Staaten aufgeben musste, hat es als rastloser Geist doch noch in den sicheren Hafen an der Freiheitsstatue geschafft. Hier raubt seine Bestie ihren Lesern den Schlaf.

Die besten Blätter für den Herbst

Lesen Sie den Freitag und den neuen Roman "Eigentum" von Wolf Haas

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden