Es mag nicht der beste Auftakt für eine Musikkolumne sein, aber eigentlich ist es doch so: Texte über Musik – Kritiken gar! – braucht im Jahr 2020 kein Mensch mehr. Alles ist verfügbar, und selbst Kleinkinder wissen, wie sie YouTube zu bedienen haben. Fehlkäufe gibt es beim Streaming nicht. Unnötig die Schlaumeier, die mit ihrem erlesenen Geschmack zu wissen glauben, was man mögen soll. Längst wissen die Algorithmen tausendmal besser, was einem gefällt. Oder nicht?
Der weltweit größte Audio-Streaming-Anbieter Spotify kündigte kürzlich an, Künstlern ein Stück mehr vom algorithmischen Kuchen zu verschaffen. Sie müssten lediglich etwas von ihren Tantiemen abgeben und könnten sich damit in die begehrten Playlists einkaufen. Playlists spielen bei Spotify eine sehr wichtige Rolle. Hat ein Nutzer das neueste Coldplay-Album zu Ende gehört, denkt der Automatismus weiter. Das nimmt lästige Entscheidungen ab und fühlt sich doch an wie eine Entdeckung. Coldplay-Freunde können so mit der Playlist „This is Coldplay“ schlicht noch mehr Coldplay hören oder im „Coldplay Radio“ weitgehend unter dem Radar fliegende Perlen wie U2 oder Oasis zu Ohren bekommen. Disruptionen ausgeschlossen. Algorithmen funktionieren am besten, wenn der Empfänger im medialen Valiumrausch das Gefühl bekommt, irgendwie würde sich schon etwas ändern, aber nichts stört.
Neben der automatischen Verlängerung der Komfortzone gibt es von Spotify-Mitarbeitern handverlesene Playlists. In Zeiten verunmöglichter Touren ist es für viele kleinere Künstler ganz besonders attraktiv, darauf zu landen. Im Februar diesen Jahres behauptete der „Head of Music“ von Spotify Deutschland, Maik Pallasch, gegenüber dem Musikexpress noch, in diese Playlists könne man sich nicht einkaufen. Nun geht es offenbar doch, gegen ein bisschen Tantieme.
Für viele bedeutet das: ein bisschen von nichts. Laut Berechnungen verdienen Künstler in Deutschland pro Stream aktuell durchschnittlich 0,28 Cent. Eine Million Streams entspräche also 2.800 Euro brutto. Bereits erfolgreiche Künstler dürften keine Probleme damit haben, auf ein paar Prozente zu verzichten, um in der „Party Deluxe“-Playlist für Feiern mit maximal zwei Haushalten oder in der „Road Trippin’“-Autofahren-Playlist für Safaris zum Baumarkt zu landen. Kleinere Künstler, wie etwa die großartige Stella Sommer, die im vergangenen Monat ihr zweites Solo-Album Northern Dancer veröffentlichte, dürfen für ihre Leidenschaft marktkonform verarmen oder eben ungehört bleiben. Die Hörer kriegen von dem Marktgerangel nichts mit. Für sie klingt alles so schön, so neu und doch irgendwie gleich.
Hätte ich mit 13 Jahren einen Empfehlungs-Algorithmus wie den von Spotify gehabt, dann würde ich wahrscheinlich noch immer Musik hören, die wie Silbermond klingt. Ich würde wahrscheinlich The Voice of Germany schauen und wäre ganz entzückt, dass dort Juroren, die Musik wie Silbermond machen, ganz entzückt sind von jungen Künstlern, die diese Musik nachsingen, damit am Ende alle gemeinsam Musik wie Silbermond machen können, um diese dann ganz zufällig kurz vor Weihnachten auf einer entzückenden Kompilation herauszubringen. Ich wäre ganz taub und mit meiner Ignoranz zufrieden, und ich würde ganz sicher keine Popkritiken lesen wollen, die mir sagen, dass ich ganz taub und ignorant bin, und die etwas über Musik erzählen, die so anstrengend, so anders klingt.
Ich bin sehr froh, dass es anders gekommen ist.
Kommentare 16
da lob ich mir die rubrik "similar albums" von -->"allmusic.com",
da werd ich noch durch musik-kritiker auf ähnliches verwiesen.
Ob es ein Comeback der Popkritik braucht, weiß ich nicht; ich weiß lediglich, dass ich von selbiger nicht leben kann ;-).
Ansonsten: nichts gegen Silbermond. Bei den Empfehlungen durchgerasselt sein dürfte die Band schon deswegen, weil sie ihren Zenit kurz nach der Jahrtausendwende hatte – in jener Epoche, als Apple sein iTunes gerade mit einer Funktion namens »Genius« aufstockte. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass man die algoritmischen Empfehlungen der großen Media-Player durchaus umgehen kann – und zwar mit denselben Mitteln, die bereits 1960, 1970 und 1980 erfolgreich waren: nicht ausschließlich Hitparadenradio hören, sich von Freund(inn)en, Bekannten und Erfahrungen anregen lassen, sich aktiv das zusammensuchen, was zu einem und einer passt.
Insofern meine ich, in dem Text etwas Deterministisches vernommen zu haben – ein Genre, das die Linke zwar seit Adornos Zeiten lässig beherrscht, praktisch jedoch wenig geeignet ist, um bei der breiten Masse Punkte zu machen. Eine andere Baustelle ist der Wert-Absturz der produzierten Kulturgüter – was sich unter anderem dadurch äußert, das Musiker(innen) fast nur noch mit Touren Geld machen können. Schließt man diese Beobachtung kurz mit dem Stellenwert, der – Stichwort: hintanstellen – existenzbedrohten Künstler(innen) im Rahmen der Corona-Krise zugedacht wird, weiß man auch schon ungefähr, wie es mit Musik & Kultur allgemein weitergehen wird.
Vielleicht war aber auch die Popkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die große Ausnahme – und wir switchen zurück in jene Zeiten, in denen die Musiker der unteren Klassen darben, während die oben sich eine hochartifizielle und entsprechend teure »Hochkultur« leisten.
Ich weiß noch wie Mitte/Ende der 90er in so einigen verächtlichen taz-Artikeln das Ende des Gitarrenrock verkündetet wurde. Grunge und Britpop waren irgendwie durch und sie hatten das ganze Elektronikzeug entdeckt, was es ja auch schon ne ganze Weile gab, aber nun waren die Loveparades soo groß geworden. Den Zug hatten sie etwas spät kommen sehen, sprangen aber noch gerade so auf, diese damals schon 40-up-Herren. Musik mit E-Gitarren war nur noch "Schweinerock", "Schwanzrock" u.dgl.m.. Aber dann kamen diese rich boys von The Strokes, tatsächlich dominant retro - aber das war dann plötzlich wieder cool. Auf den nächsten Zug gehopst...
Ich lese also seit ungefähr Mitte der Nullerjahre keine Musikzeitschriften mehr. Bestimmt habe ich viele gute Texte und damit gute Anregungen verpasst. Aber mir auch noch mehr überflüssige erspart.
Ich höre, dies hier tippend, die Fountaines D.C. via Spotify und kann wiedermal nicht verstehen, warum soviele alte Knacker in meinem Alter den alten Zeiten nachtrauern.
Die Algorithmen ignoriere ich inzwischen weitgehend. Es ist mit ihnen genau so, wie im Artikel hier beschrieben: Sie sind dumm und konventionell. Und sie sind ein Beweis dafür, dass in der Konsumkultur, in der wir leben zwar vieles "artificial", aber so gut wie gar nichts "intelligent" ist. Wir alle sollten empört sein ob der hanebüchenen Geringschätzung unserer Intelligenz, Emotionalität, unserer Sinnlichkeit und unseres Eigensinns.
Wie komme ich z.B. auf die Dubliner Fountaines z.B.? Radio und überhaupt immer hin-hören. Und zur Not, wenn einen dabei was aufhorchen lässt, eine App wie Shazam bemühen. :-)
Wie finde ich neue Musik, die MICH berührt und mitreißt? Das Problem ist uralt. Schon die Mods der ersten Stunde hatten es. In den frühen 60ern konnte man auch in Westeuropa nicht einfach in einen Laden gehen und die neuesten amerikanische Independent-Scheiben kaufen. Es wäre spannend, eine Geschichte der Tools, Technologien, Platformen, Kanäle, der Vernetzungen, des Erfindungsgeistes von jungen Leuten zu schreiben, die sich die Mixtapes/Playlists für einen Lebensabschnitt zusammensuchten.
Die Welt ist voller Musik. Überall auf dieser Erde stehen Schmelztiegel rum, in denen es brodelt. Und heutzutage kommt man auch noch viel leichter an alles ran. Wunderbar! - Die Algorithmen sind ein Witz. Die saturierten Musikschreiber auch. Man braucht wie zu allen Zeiten Sinne und Eigensinn, um mit den Tools umzugehen.
ich hab gerade eine rbb-retro über die pop-musik in den 80ern gesehen:
wer sich damals dem breiten strom des synthi-pop ausgeliefert hat,
kann nicht damit rechnen, das unbeschadet überlebt zu haben...
(--->pop nonstop -die achtziger, incl. 200 tsd, die lieber hätten singen sollen:
"born in the D.D.R.").
wiki-artikel -->"bruce-springsteen-konzert 1988 in ost-berlin".
"
die lieber hätten singen sollen:
"born in the D.D.R.")."
Manche haben es getan und Sie dürfen es sich heute noch anhören.
Sandow - Born in the G.D.R.
Mein interner Algorithmus empfielt außerdem:
SCHLUSS MIT DEM GOTTESGERICHT
Die Hochzeit von Himmel und Hölle
Känguru
Meiner Ansicht nach verbindet Playlists und Musikkritik viel mehr als sie trennt. Beide versuchen mir Musik schmackhaft zu machen ohne eine Ahnung zu haben, was ich wirklich hören will. Beide zeigen letzlich nur auf das Gewöhnliche, dass "Alle" hören wollen. Und beide verpassen fast immer die wirklichen Trends. Und dass Musikkritik "neutral" wäre, glaub ja sicherlich auch niemand.
Dass MusikkritikerInnen es doof finden, wenn jetzt künstliche Intelligenz ihnen den Job wegnimmt, ist natürlich verständlich. Aber aus der Perspektive von interessierten MusikhörerInnen bleibt letztlich alles beim Alten: Man kann Kritiken und Playlists hin und wieder als Anhaltspunkt nehmen aber letztlich muss man selbst aktiv werden um interessante Musik zu finden.
Es ist ja schön, dass die Kommentatoren hier wohl noch selbst suchen und entdecken, aber was ist mit denen, die sich dem System völlig ergeben haben? Ich habe das Gefühl, dass die nichts anderes mehr kennen als HipHop, R&B und Deutschgedudel (wie eben Silbermond) oder mal ein Stilmix aus Genanntem.
Mir persönlich geht es jetzt weniger um die Genres, aber die Genres haben Markenzeichen, und die bedeutet den Fokus auf Beats und Gesang. Melodien scheinen nicht mehr so wichtig, oder sie sind irgendwie zu aufwändig, keine Ahnung. Wenn man sich mal Queen oder Elton John anhört, sind da Welten dazwischen. Davon mal abgesehen, wie der Langzeiteffekt aussieht - Queen und Elton John läuft immer noch rauf und runter, die aktuellen Charts sind in ein bis zwei Jahren weg vom Fenster (bis auf wenige Ausnahmen).
Und dann kommen Streamingdienste und halten dich mit Algorithmen im Genrekäfig gefangen. Kein Wunder, dass man den Eindruck gewinnt, die jungen Leute wären ein bisschen engstirnig geworden und haben keine Lust auf Playlistenexkursionen. Soll mal die Technik machen...
Ich verstehe das Problem nicht so ganz. Will man Leute zu ihrem Glück (sprich Musik außerhalb des "Mainstream") zwingen? Dass wir alten Säcke (da zähle ich mich mit Mitte 30 auch schon irgendwie dazu) die Musik der Jugend für komisch halten war ja schon immer so. Aber wenn die es so wollen, wo ist das Problem? Vor allem gibts ja in der Jugend auch Viele, die abseits der Algorithmen nach Musik schauen. Und MusikerInnen und Bands, die abwechslungsreiche Musik machen gibt es auch genug. Die sind nur nicht so berühmt und vermutlich lässt sich davon auch nur eingeschränkt leben
Aber was wäre die Alternative? Auch wenn es ganz tolle Musikkritiken gibt, müssen sich die Leute doch selbst dafür entscheiden, diese auch zu lesen. Am Ende lesen es doch nur die, die vorher schon auf eigenen Pfaden durch die Musiklandschaft gewandert sind.
Was die Bezahlung der Musiker bei Streamingportalen angeht, muss sicherlich etwas geschehen. Aber wie MusikkritikerInnen da beitragen sollen, erschließt sich mir nicht.
Es geht nicht um das Erzwingen, sondern um die Eigeninitiative. Die hat spürbar abgenommen, gefühlt zumindest, und das spiegelt sich nicht selten am Angebot-Nachfrage-Prinzip wieder. Ein Algorithmus ist nur die Weiterführung davon.
Ja, meine Aussage kam überspitzt rüber, weil es auch Junge gibt, die der modernen Musik nichts abgewinnen können. Ich persönlich kann der ebenfalls null abgewinnen, einfach weil sie für mich mega-langweilig ist. Und dann kann ich nicht nachvollziehen, wie man sich das den halben Abend in der Disco oder ganztägig im Radio antun kann. Kann an meinen Gehirnwindungen liegen, aber irgendwie bin ich wohl nicht der einzige, der so denkt.
Ich verstehe weder diesen Artikel noch einen Großteil dieser Früher-war alles-Besser-Kommentare nicht. Neue Musik zu entdecken bedeutete doch früher größtenteils, in den Plattenladen laufen und dann die Regale von "Rock" bis "Volksmusik" und dann von A-Z zu durchsuchen. Da war ich oft frustriert und ohne neues Liedgut zurückgekehrt. Oder man orientierte sich an den (Zufalls-)Funden von Freunden & Bekannten, was manchmal auch ziemlich blöd war, da es einem oft nicht so wirklich gefiel, man aaber einfach darüber sprechen konnte.
Mit Spotify & seinen Vorschlägen hat sich da Vieles verändert. Ich habe meinen Musikgeschmack damit schon extrem erweitern und verfeinern können! Alleine 2020 habe ich über 900 Künstler gehört. Und dabei sehr viel Neues aus meinem Stammgenre und auch Buntes auf Abwegen hören können. Das hätte ich mir früher nicht mal erträumt, in einer Musikbibliothek mit 30.000.000 ! Liedern per Fingertipp zu schmökern.
Und es bleiben Vorschläge! Denen kann man folgen, muss man aber nicht. Und abseits solcher Vorschlagslisten gibt es ebenfalls viel zu entdecken.
Was mich aber an den meisten Diskussionen über Klassifikationen immer wieder stört, ist die schablonenartige Kritik an "DEN Algorithmen", ohne, dass man die konkrete Situationen erörtert. Sie sind auf jeden Fall immer heimtückisch und böse und manipulieren jeden im Hintergrund! Sie erzeugen "Blasen", in denen wir dann gefangen sind. Was für ein Bullshit. In diesen "Blasen" haben wir uns schon immer bewegt. Die Linken, die Rechten, die Rocker, die Nerds, die im Westen und die im Osten. Nur waren wir damals zu blöde zu verstehen, dass es welche sind :-).
Ob wir unser Interaktionsverhalten einem Unternehmen mitteilen oder nicht, bleibt immer noch unsere Entscheidung. Es dürfte mittlerweile jeder mitbekommen haben, dass diese Daten das Kapital dieser Unternehmen darstellt. Wer das gar nicht möchte, dem bleibt immer noch ein Nokia 3310 mit halbjährlichem Wechsel der Pre-Paid-Sim-Karte. Damit ist man dann eben sehr privat unterwegs.
Ich denke, die Kritik ging nicht nur in Richtung der Algorithmen, sondern auch an der Tatsache, man kann als Künstler auf Geld verzichten, damit man überhaupt wahrgenommen wird. Es gab aber auch mal Zeiten, in denen Radiostationen Geld erhielten, um einen bestimmten Song zu spielen. In den USA gab es in den 1950ern Fälle, in denen Radio-DJs von Plattenhändlern ihren Drogen erhielten und im Gegenzug gewünschte Songs spielen durften. Von daher nix Neues.
Bei youtube verfolge ich ganz gerne mal die Vorschläge, die dort gemacht werden, wenn ich einen (meist nur von wenigen gehörten) Song höre. Die Mehrzahl der dann gemachten Vorschläge sind durchaus interessant. Einer ist manchmal gesponsort. Vor zwei Jahren wurde mir lustigerweise der Coldplay unter den deutschen Kabarettisten Volker Pispers immer wieder vorgeschlagen, der mit dem immer gleichen Programm wie Coldplay seine Hörer erfolgreich einschläfern konnte. Insofern: Manchmal sinnvoll, aber ich muß die Vorschläge nun einmal auch nicht nutzen. Wenn ich ukrainische Musik höre, kommt hin und wieder auch ein lustiger Vorschlag, Propaganda von den Volksrepubliken zu sehen. Von daher können diese Logarithmen auch nicht immer so ganz sinnvoll sein.
“Es wäre spannend, eine Geschichte der Tools, Technologien, Platformen, Kanäle, der Vernetzungen, des Erfindungsgeistes von jungen Leuten zu schreiben, die sich die Mixtapes/Playlists für einen Lebensabschnitt zusammensuchten.“
https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/geschichte/geschichte-der-neuzeit/40404/let-s-historize-it
Der letzte Absatz, Herr Nowotny, bringt es so wunderbar auf den Punkt.
danke für den link!
pispers schläfert seine hörer ein?
reden wir von dem gleichen, mittlerweile verstummten?