Wer will schon hören, dass er ignorant ist?

Musik Algorithmen liefern uns, was wir vermeintlich wollen. Ein neuer Mechanismus bei Spotify verstärkt die Selbstbestätigung noch. Braucht es ein Comeback der Popkritik?
Ausgabe 47/2020
Hören muss man leider noch selbst, den ganzen Rest übernimmt der Algorithmus
Hören muss man leider noch selbst, den ganzen Rest übernimmt der Algorithmus

Foto: Newscast/Imago Images

Es mag nicht der beste Auftakt für eine Musikkolumne sein, aber eigentlich ist es doch so: Texte über Musik – Kritiken gar! – braucht im Jahr 2020 kein Mensch mehr. Alles ist verfügbar, und selbst Kleinkinder wissen, wie sie YouTube zu bedienen haben. Fehlkäufe gibt es beim Streaming nicht. Unnötig die Schlaumeier, die mit ihrem erlesenen Geschmack zu wissen glauben, was man mögen soll. Längst wissen die Algorithmen tausendmal besser, was einem gefällt. Oder nicht?

Der weltweit größte Audio-Streaming-Anbieter Spotify kündigte kürzlich an, Künstlern ein Stück mehr vom algorithmischen Kuchen zu verschaffen. Sie müssten lediglich etwas von ihren Tantiemen abgeben und könnten sich damit in die begehrten Playlists einkaufen. Playlists spielen bei Spotify eine sehr wichtige Rolle. Hat ein Nutzer das neueste Coldplay-Album zu Ende gehört, denkt der Automatismus weiter. Das nimmt lästige Entscheidungen ab und fühlt sich doch an wie eine Entdeckung. Coldplay-Freunde können so mit der Playlist „This is Coldplay“ schlicht noch mehr Coldplay hören oder im „Coldplay Radio“ weitgehend unter dem Radar fliegende Perlen wie U2 oder Oasis zu Ohren bekommen. Disruptionen ausgeschlossen. Algorithmen funktionieren am besten, wenn der Empfänger im medialen Valiumrausch das Gefühl bekommt, irgendwie würde sich schon etwas ändern, aber nichts stört.

Neben der automatischen Verlängerung der Komfortzone gibt es von Spotify-Mitarbeitern handverlesene Playlists. In Zeiten verunmöglichter Touren ist es für viele kleinere Künstler ganz besonders attraktiv, darauf zu landen. Im Februar diesen Jahres behauptete der „Head of Music“ von Spotify Deutschland, Maik Pallasch, gegenüber dem Musikexpress noch, in diese Playlists könne man sich nicht einkaufen. Nun geht es offenbar doch, gegen ein bisschen Tantieme.

Für viele bedeutet das: ein bisschen von nichts. Laut Berechnungen verdienen Künstler in Deutschland pro Stream aktuell durchschnittlich 0,28 Cent. Eine Million Streams entspräche also 2.800 Euro brutto. Bereits erfolgreiche Künstler dürften keine Probleme damit haben, auf ein paar Prozente zu verzichten, um in der „Party Deluxe“-Playlist für Feiern mit maximal zwei Haushalten oder in der „Road Trippin’“-Autofahren-Playlist für Safaris zum Baumarkt zu landen. Kleinere Künstler, wie etwa die großartige Stella Sommer, die im vergangenen Monat ihr zweites Solo-Album Northern Dancer veröffentlichte, dürfen für ihre Leidenschaft marktkonform verarmen oder eben ungehört bleiben. Die Hörer kriegen von dem Marktgerangel nichts mit. Für sie klingt alles so schön, so neu und doch irgendwie gleich.

Hätte ich mit 13 Jahren einen Empfehlungs-Algorithmus wie den von Spotify gehabt, dann würde ich wahrscheinlich noch immer Musik hören, die wie Silbermond klingt. Ich würde wahrscheinlich The Voice of Germany schauen und wäre ganz entzückt, dass dort Juroren, die Musik wie Silbermond machen, ganz entzückt sind von jungen Künstlern, die diese Musik nachsingen, damit am Ende alle gemeinsam Musik wie Silbermond machen können, um diese dann ganz zufällig kurz vor Weihnachten auf einer entzückenden Kompilation herauszubringen. Ich wäre ganz taub und mit meiner Ignoranz zufrieden, und ich würde ganz sicher keine Popkritiken lesen wollen, die mir sagen, dass ich ganz taub und ignorant bin, und die etwas über Musik erzählen, die so anstrengend, so anders klingt.

Ich bin sehr froh, dass es anders gekommen ist.

Konstantin Nowotny schreibt an dieser Stelle künftig alle vier Wochen über Musik – damit alles anders bleibt. Kommende Woche folgt Christine Käppeler mit dem Kunsttagebuch

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