Soziologie ist eine merkwürdige Wissenschaft. Ihre Vertreter sind sich uneins darüber, was sie erforschen. Der Mediziner erforscht den Körper, der Physiker die Naturgesetze und der Soziologe die Gesellschaft. Während jedoch Mediziner und Physiker von außen auf ihr Forschungsobjekt schauen, sind Soziologen selbst Teil der Gesellschaft. Es ist, als wäre der Arzt eine Zelle in dem Organ, das er untersuchen möchte. Gibt es ein „außen“ der Gesellschaft? Schwer zu sagen, vor allem für Soziologen. 1909 gründete sich die Deutsche Gesellschaft für Soziologie. Regelmäßig kommen Soziologen hier zusammen und besprechen die Gesellschaft. Über 100 Jahre nach der Gründung sind sie sich in ihrer Grundfrage noch immer selten einig. Einige Vertreter des Fachs stört das.
Eine ganze Reihe namhafter Soziologen gründete 2017 einen neuen Verband, die „Akademie für Soziologie“. Sie wollen zeigen: Die Soziologie kann eine Wissenschaft wie jede andere sein. Wenn sie sich über ihre Methodik einig ist, leistet sie Wichtiges. Gerade in Zeiten, in denen Wissenschaft – vor allem Geisteswissenschaft – an Glaubwürdigkeit zu verlieren scheint, braucht niemand Ärger im Elfenbeinturm. „Es gibt viele, viele Fragen, die gesellschaftliche Probleme erster Ordnung sind“, sagt Holger Lengfeld, Soziologieprofessor in Leipzig und Vorstandsmitglied der Akademie. Er forscht unter anderem zu sozialer Ungleichheit. Vor seinem Büro hängt ein ausgeschnittener Zeitungsartikel. Im Berliner Tagesspiegel erklärte er, warum eine steigende Armutsquote nicht automatisch bedeutet, dass es den Armen schlechter geht, weil „Armut“ mit statistischen Methoden bestimmt wird. So stellt er sich gute Soziologie vor: Zahlen, die man nachprüfen kann; Thesen, die sich widerlegen lassen. Warum sollte jemand damit ein Problem haben? Jörg Strübing, Professor für Soziologie an der Universität Tübingen, ist über die Inanspruchnahme des Namens seines Fachs durch die Akademie regelrecht erbost: „Es ist eine Zumutung, dass sie den Begriff ‚Soziologie‘ im Titel führt: Es ist wohl eher eine Akademie für standardisierte Sozialforschung.“ Den angeblichen „wunden Punkt“ des Fachs begreift er als Stärke: „Jede Gesellschaftswissenschaft ist ein diskursives Unternehmen und muss es sein, wenn sie erfolgreich sein will.“
Das erinnert an einen Streit, den es schon einmal gab. In den 1960er Jahren diskutierten unter anderem Theodor W. Adorno und Karl Popper. Die Debatte ging als „Positivismusstreit“ in die Annalen des Fachs ein. Worum geht es, damals und heute? Dazu ein weiteres Beispiel: Lengfeld hat kürzlich anhand von Befragungen herausgefunden, dass die Angst vor sozialem Abstieg in Deutschland nach Jahren des durchgängigen Anstiegs zuletzt stark zurückgegangen ist. „Die Gründe dafür haben wir noch nicht eindeutig gefunden“, sagt er, „wir vermuten aber, dass die Menschen gelernt haben, mit den neuen Risiken im Kapitalismus besser umzugehen. Nur einen eindeutigen, überprüfbaren Nachweis haben wir dafür noch nicht.“
Lengfeld betreibt Forschung im Geiste des „Kritischen Rationalismus“ Karl Poppers. Der war der Ansicht, der Wissenschaftler könne die soziale Realität so erkennen, wie sie ist. Wenn er mal danebenliegt, muss ihm das ein anderer zunächst nachweisen. Nichts darf einfach so behauptet werden.
Forschung ohne Zähne
Wenn nun der „Kapitalismus“ an etwas schuld sein soll, bräuchte es zunächst eine Welt ohne Kapitalismus, um das zu beweisen. Karl Poppers akademischer Rivale Adorno sah genau hier ein Problem. Sein Programm der „Kritischen Theorie“ betrachtet die Gesellschaft etwa so, als würden Menschen wie Fische in einem Aquarium leben. Das Aquarium ist die „Totalität“, der Kapitalismus formt diese. Eine soziale Realität hinter der Glasscheibe, außerhalb des herrschenden Systems, sei schwer vorstellbar. Einzelprobleme ließen sich lösen, aber ohne Aufhebung des Grundproblems entstünden immer neue. Um das zu begreifen, bräuchte es die Kritik am Großen und Ganzen – und die lässt sich nicht immer nachprüfbar oder verwertbar gestalten.
Lengfeld meint, seine empirisch-analytische Methode mache Soziologiestudenten fit für den Arbeitsmarkt, für Jobs in Unternehmensberatungen, Stiftungen, Gewerkschaften oder der Politik. In Leipzig hat die Soziologie einen stark empirisch-analytischen Charakter. Kritik lässt sich auch damit formulieren, aber nicht jede. Das studentische Interesse an kritischer Gesellschaftstheorie ist naturgemäß vorhanden, solche Veranstaltungen finden in Leipzig aber häufiger außerhalb des offiziellen Lehrangebotes statt.
Kritiker der Akademie wie Strübing wittern die Gefahr, dass das Fach mit dem Fokus auf den Arbeitsmarkt seine Zähne verliert: „In ihren Statements reduzieren gerade Vertreter der Akademie ihre Aufgabe faktisch auf die eines Zulieferers von Datenanalysen für Politik, Medien und Verwaltung. Von kritischer Eigenständigkeit gegenüber den oft allzu simplen Deutungsangeboten politischer und administrativer Akteure ist da nicht viel zu sehen.“
Eins hat die Akademie eher unbeabsichtigt erreicht: Die Debatte darüber, wie viel Kritik und Pluralität die Sozialforschung braucht, wird wieder geführt. Das ist gut. Gefährlich wird es erst, wenn sich alle einig sind.
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