A.* spricht gern über die drei Grundwerte der Polyamorie. Sie lauten: Einvernehmlichkeit, Transparenz und Langfristigkeit. A. ist Administrator der größten deutschsprachigen Polyamorie-Facebookgruppe mit über 4.000 Mitgliedern. Und er erlebt es im Netz immer wieder, dass Menschen ein medial stark verzerrtes Bild der Vielliebe haben. Es gehe nicht darum, dass einfach jeder mit jedem schlafe. „Wenn du die drei Grundwerte nimmst, fällt eine Menge raus, was die Leute gemeinhin unter ‚viel Liebe‘ verstehen“, sagt A.
Kaum ein Beziehungsratgeber, kaum ein soziologisches Lehrbuch hat sich bislang an einer Definition des Worts versucht. Sie könnte so lauten: Polyamorie ist es, wenn zwei oder mehr Menschen eine prinzipiell nicht exklusiv-monogame Beziehung führen, sich darüber einig sind, miteinander offen darüber reden und ihre Beziehung auf lange Sicht so weiterführen wollen.
Die polyamore Szene hat in den vergangenen Jahren starken Zulauf erfahren. In so gut wie jeder großen Stadt gibt es mittlerweile Poly-Stammtische, die offen für neugierige Besucher sind. Und seit 2008 gibt es den ersten deutschen Polyamorie-Verein, das PolyAmore Netzwerk (PAN). Zweimal im Jahr veranstaltet der Verein ein Treffen. Im Juni treffen sich über 100 Teilnehmer in einer ehemaligen Jugendherberge, nahe einem thüringischen 500-Seelen-Nest. Für fünf Tage schlagen die Polys hier ihre Zelte auf oder beziehen Bungalows.
Wie tanzt man zu dritt?
Das Treffen dient vor allem dem Erfahrungsaustausch. Es gibt Gesprächsrunden und Workshops. Wie gehe ich mit Eifersucht um? Wie gelingt die Kindererziehung in einem Beziehungsgeflecht, einem „Polykül“, wie es hier scherzhaft heißt? Aber auch: Wie tanzt man zu dritt, zu viert? Durch das Polytreffen weht ein hippiesker Hauch. Trotz der bunten Mischung aus Jung und Alt, aus esoterisch-spirituell bis pragmatisch-rational, ist der Umgang mit körperlicher und emotionaler Nähe spielerisch, aber immer respektvoll.
Wer auf einem Polytreffen vor allem Sexpartner sucht, ist auf dem Holzweg – das wird bereits vor der Anreise klargestellt. Natürlich ist es erlaubt, sich näherzukommen. Die Atmosphäre dafür ist weder schmuddelig noch restriktiv, sondern „sexpositiv“, wie der szeneinterne Begriff heißt.
Wenngleich einige Sprachcodes und Umgangsformen auf einen Außenstehenden befremdlich wirken, wünscht man sich doch bald, dass ein bisschen von dieser selbstverständlichen Achtsamkeit gegenüber den Grenzen und Bedürfnissen des anderen Einzug in jede großstädtische Clubnacht halten würde. Sexismen sind hier fremd – und das nicht, weil das ein Plenum so entschieden hat, sondern einfach so.
Das Polytreffen ist auch nicht akademisch. Zum Glück, findet Nelly Stockburger, die teilnimmt. Als sie in ihren Zwanzigern war, hieß Polyamorie noch freie Liebe. Wenn Stockburger in den Gesprächsrunden von ihrer Zeit in einer Art Kommune, später dann in einer feministischen Frauengruppe in Trier erzählt, lauschen alle gespannt. Sie hat über ihre Erfahrungen damals ein Buch geschrieben, es heißt Briefe von Draußen: Über Liebe und Revolution. Ihr Fazit ist zwiespältig. „Unser gemeinsamer Nenner war der blinde Idealismus und die Unerfahrenheit bezüglich der Einschätzung der drohenden Gefahren, die in den ideologischen Extremen dieser wilden Jahre lauerten“, schreibt sie.
Sie meint damit den Zustand, wenn das Ideal zum Imperativ wird. Die Revoluzzer verstanden die Thesen von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse als Gegenbewegung zur bürgerlichen Gesellschaft, die den Faschismus hervorgebracht hatte. Das gab ihnen quasi automatisch recht, egal ob die Theorie mit der Praxis übereinstimmte. Stockburger erzählt von einer Situation, in der ein Mann ihre Eifersucht ideologisch verklären wollte: „Du darfst nicht eifersüchtig sein, das ist spießbürgerlich, konterrevolutionär.“ Sie war damals aber eifersüchtig, und Erklärungen aus dem theoretischen Überbau halfen da nicht weiter.
Heute freut sie sich, wenn die Polyszene jedes Gefühl ernst nimmt und gezielt über alles redet, auch wenn die Gesprächsrunden mitunter an kollektive Psychotherapien erinnern. Alles ausleben ist okay – aber nicht als Zwang, nicht als Diktat, nicht, wenn es jemand anderem weh tut!
Unter ihresgleichen
Bei den 68ern war das radikaler. Wilhelm Reich sah die Triebunterdrückung der bürgerlichen Gesellschaft als Treibstoff für die NS-Barbarei. Anders als Sigmund Freud forderte er, nicht nur über unbewusste, unterdrückte Triebe in der Gesprächstherapie zu reden, sondern ihnen bewusst freien Lauf zu lassen. Das Elend der Welt, psychische Krankheiten, wahnhafte Mordfantasien – das alles sei die Folge eines verdrängten Sexualtriebs, den die Gesellschaft nur unterbindet, damit der Kapitalismus florieren kann. Schon Friedrich Engels befand, dass die monogame Ehe nichts weiter sei als ein Konstrukt, dass der Vererbung von Privateigentum diene und damit den Erhalt der Klassengesellschaft stütze. Marxisten waren noch nie Romantiker.
Von diesem gesellschaftspolitischen Anspruch ist die Polyszene heute aber weit entfernt. Trotz Treffen und Stammtischen wollen Polys zuweilen lieber unter sich bleiben. Weil Polyamorie mit dem Vorurteil belastet ist, nicht mehr als viel Sex zu sein, möchte der ein oder andere das lieber vor dem Arbeitgeber oder den Eltern verbergen. Die Überschneidungen zu Gruppen aus der queeren Szene, zum Beispiel zur Bi-, Trans- oder Homosexualität, sind zahlreich. Alle eint ein Stigma, auch die Polys sprechen vom „Outing“. Dabei wollen sie der heteronormativen Gesellschaft mit ihren exklusiven Zweierbeziehungen gar nicht unbedingt zu Leibe rücken.
A.: „Man könnte behaupten, dass Polyamorie eine Konterrevolution für die freie Liebe ist, weil sie sich wieder dem Eheähnlichen, dem Verbindlichen und dem Partnerschaftlichen annähert.“ Er träumt auch von einer Anerkennung der Polyamorie als eingetragener Lebenspartnerschaft, wobei diese nach der Entscheidung für die „Ehe für alle“ nun gerade abgeschafft wird.
Bei einer eingetragenen Lebenspartnerschaft mit mehr als zwei Partnern könnten mehrere Partner das gemeinsame Sorgerecht bei Kindern haben: „Mit einer Lebenspartnerschaft wäre das quasi amtlich, dann hat man da auch Rechte. Das fände ich sehr sexy“, sagt A.
Polyamorie – das Beziehungsmodell der Generation beziehungsunfähig? Derjenigen, die alles haben, aber sich nie festlegen wollen? Derjenigen, die vor lauter Flexibilisierungszwang eine feste Partnerschaft mit einem Partner für eine Zumutung halten? Das Thema spricht viele junge Menschen an und hat vor allem Einzug in die linke Subkultur gehalten. In vielen Texten junger Autoren liest sich die Tendenz zu nichtmonogamen Beziehungsformen weniger wie ein Wunsch zur gesellschaftlichen Veränderung und mehr wie ein Zwang zur Selbstoptimierung: Alles auf eine Karte? Viel zu unsicher. Was, wenn ich es mir morgen anders überlegt habe?
Der Autor Friedemann Karig brachte Anfang des Jahrs sein Buch Wie wir lieben heraus. Seine Bestandsaufnahme der traditionellen Liebe ist vernichtend: Fast jede zweite Ehe wird geschieden, und auch die stabilen Partnerschaften bestehen aus viel Lug und Betrug. Eine Studie des Online-Dating-Portals Parship will herausgefunden haben, dass 16 Prozent von knapp 1.000 befragten Männern und Frauen schon einmal ihren Partner betrogen haben. Weitere 11 Prozent taten das noch nicht, kämpften aber mit der Versuchung. Ist die Polyamorie womöglich eine Konfliktlösungsstrategie für die nicht lebbare Fiktion der lebenslangen treuen Partnerschaft?
Lebenslange Monogamie – das wissen Psychologie, Biologie, Soziologie und letzten Endes auch Geschichte, Literatur und Kunst – entspricht nicht dem menschlichen Wesen. Sie ist ein Treueschwur, der allzu oft mehr Krampf ist als Freude. Und doch ist Betrogenwerden nicht nur sagenhaft schmerzvoll, sondern gilt auch als Scheitern am gesellschaftlichen Ideal der gelingenden Zweierbeziehung.
Auf der anderen Seite umgibt uns Sex täglich, minütlich. Ihn viel und gut zu haben gilt als erstrebenswert. Aber bitte nicht zu viel – das ist dann wieder krank, oder für Frauen oft noch schlicht unerhört. Statistisch gehen deswegen Befragungen zur Anzahl der Sexpartner nie auf. Dass Männer „sie alle“ haben können und Frauen keine „Schlampen“ sein sollen, ist derart stark verankert, dass selbst bei anonymen Befragungen gelogen wird.
Und Attraktivität ist ein Imperativ. Auch in einer festen Beziehung wollen wir anderen noch gefallen, dürfen das Kompliment des Flirts aber nicht zu sehr zulassen. Ein Widerspruch, dessen Lösung immer nur scheinheilig ist: Betrug oder Selbstbetrug. Trotzdem können laut Parship-Studie kaum mehr als zwei Prozent der Deutschen mit alternativen Beziehungsmodellen etwas anfangen. Polyamorie trägt ein Stigma. Die Praktizierenden werden gefragt: Wie haltet ihr das aus, wenn der Partner jemand anderes hat? Sie könnten die Frage aber auch zurückstellen: Wie haltet ihr das aus, lebenslang treu zu sein?
Leicht ist beides nicht. Nicht alle Polys sehen in ihrer Beziehungsform eine Erlösung. Viele gestehen sich ein, dass es ein Kampf sein kann. Aber: So gut wie nie bereut es jemand, den Versuch gewagt zu haben. A. hat recht, wenn er sagt, die Polyamorie sei gar nicht so progressiv, sondern eher versteckt-reaktionär, der „Verrat“ an dem linken Revolutionsversuch der freien Liebe, sozusagen die SPD unter den Beziehungsmodellen.
Polyamorie, das bedeutet Achtsamkeit, Empathie und auch Regeln. Regeln für ein Spiel, in dem es keine Fairness gibt. „Fairness gehört in den Sport. In der Liebe kämpft man aber nicht gegeneinander“, sagt eine Teilnehmerin des Polytreffens in Thüringen. Für die Polys ist Liebe kein Wettstreit, bei dem es am Ende einen Gewinner gibt. Sie sind überzeugt: Die Liebe wird nicht weniger, nur weil man sie teilt.
Info
*Auf Wunsch des Protagonisten wurde der Name nachträglich abgekürzt (5. Dezember 2019).
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