1969: Ballonbücherbomben

Zeitgeschichte Kurz vor der Frankfurter Buchmesse wird bekannt, dass der Rowohlt-Verlag mit der Bundeswehr Literatur in die DDR schmuggelt. Die linken Stammautoren laufen Sturm
Ausgabe 40/2014

Es ist viel Verkehr am geteilten deutschen Himmel in den Sechzigern: Immer wieder, wenn der Westwind bläst, treiben Schwärme von Ballons über die Grenze Richtung Osten. Doch was nach Belustigung zum Kindergeburtstag klingt, ist Kalter Krieg. An den Ballons hängen keine Anfragen zu Brieffreundschaften, sondern Papierbündel mit „politisch-ideologischer Diversion“, wie es in der DDR heißt. Die Zeugen Jehovas schicken Bibelverse in den entfrommten Osten, die SPD versorgt die Genossen auf der anderen Seite mit ihrem Parteiorgan Vorwärts, die Bundeswehr wirbt auf Flugblättern mit dem westdeutschen Wirtschaftswunder, auf dass DDR-Volksarmisten Geschmack am Desertieren finden. Manchmal baumeln Päckchen mit Westzigaretten an den Ballons, mitunter Literatur. So fliegen Mitte 1969 bereits zum zweiten Mal etliche tausend Exemplare des antistalinistischen Erinnerungsbuchs Marschroute eines Lebens von Jewgenija Ginsburg über die deutsch-deutsche Grenze.

Die Lizenz für die deutschsprachige Ausgabe von Ginsburgs Autobiografie besitzt eigentlich der in Reinbek bei Hamburg beheimatete Rowohlt-Verlag. Doch ist im Ballonbuch – Dünndruck, Kleinstformat, wasserdicht verpackt – statt eines Verlagsimpressums lediglich ein Revers mit einer Scheinadresse gedruckt, dazu der Zusatz: „Achtung bei Zuschriften aus der SBZ (Sowjetische Besatzungszone, Anm. d. Red.) wählen Sie einen Briefkasten im anderen Ortsteil! Gebrauchen Sie einen fingierten Absender und verstellen Sie Ihre Handschrift; sicher ist sicher!“

So weit, so bezeichnend. Und so gewöhnlich. Doch entwickelt sich in diesem Fall aus dem ersten Akt, der Exposition, ein ebenso klassisches wie absurdes Drama um die Ballonbücher. Oder mit den Worten des Verlegers Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: „König Lear, inszeniert von Beckett.“ Eines der Ginsburg-Bücher nimmt nämlich den umgekehrten Weg, kommt aus der DDR zurück in die Bundesrepublik und landet schließlich auf dem Schreibtisch von Nikolaus Neumann, seines Zeichens Rowohlt-Lektor und bekennender Linker. Er schöpft Verdacht – weitere Titel seines Verlags könnten an die Bundeswehr verkauft worden sein – und stellt Nachforschungen an. Und tatsächlich sitzt in der Herstellungsabteilung ein Korrektor über einem auffallend kleinen Umbruchbogen des Buches Reformmodell ČSSR von Radoslav Selucky, kürzlich als rororo-Taschenbuch erschienen. Empört erstattet Neumann dem Cheflektor Fritz J. Raddatz Bericht.

Der führt das Rowohlt-Lektorat seit einigen Jahren mit einer Mischung aus Arbeitswut, Autorität und Brillanz. Gemeinsam mit Ledig-Rowohlt verantwortet er das Programm, in dem „leichte“ Bestsellerautoren wie Eric Malpass neben Maos Theorie des Guerillakriegs oder Günter Amendts Buch über Kriegsdienstverweigerung stehen. Beide fungieren als Geschäftsführer und gelten als die „wilden Linken“ im Verlag, wobei der Verleger eher maßvoll wild und gemäßigt links ist. Nicht besonders wild und überhaupt nicht links ist wiederum der Vertriebschef Karl Hans Hintermeier, ebenfalls amtierender Geschäftsführer. Aus der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion ist Hintermeier mit einem Oberstleutnant des Verteidigungsministeriums bekannt, der sich, wie es der Zufall will, ausgerechnet um die Ballonbücher kümmert. So viel zum zweiten Akt des Dramas, dem erregenden Moment.

Nachdem Nikolaus Neumann Cheflektor Raddatz über die Bundeswehrgeschäfte des Verlages informiert hat, geht dieser zu Ledig-Rowohlt. Beide sind aufgebracht: Zwar wissen sie von dem Bundeswehrgeschäft in Sachen Ginsburg. Dass aber die firmeneigene Druckerei dieses Buch als Tarnschrift herstellt, war ihnen nicht bekannt. Als Ledig-Rowohlt die Sache intern zu bereinigen versucht, indem er anordnet, zumindest den Selucky-Auftrag umgehend zu stornieren, fühlt sich Hintermeier von links überrumpelt und greift zur verbalen Keule, die ausgerechnet den DDR-Flüchtling Raddatz trifft: „Wenn so etwas in diesem Haus nicht mehr möglich sein soll, kann ich den Gerüchten, dass Sie bezahlter Ostagent sind, nicht mehr widersprechen.“ Hintermeier reicht seine Kündigung ein. Ledig-Rowohlt zeigt sich gesprächsbereit, den Lektoren mehr Mitbestimmungsrechte zu garantieren. Also alles erledigt?

Mitnichten. Es folgt der dritte Akt des Dramas, der Höhepunkt. Nach Missverständnissen und einem grotesken Spionagethriller, bei dem ein Taxifahrer namens Bertinetti die Hauptrolle spielt, kommt es zum Eklat: Der Lektor Nikolaus Neumann kündigt ebenfalls und informiert die Illustrierte stern über die Ballon-Affäre. Das Echo in der zersplitterten linken Szene ist heftig. Während die Rowohlt-Autoren aus dem Umfeld der Außerparlamentarischen Opposition (APO) noch über geeignete Maßnahmen gegen ihren Verlag beraten, erreicht den Verlagssitz eine Postkarte aus Duisburg: „Auf der Buchmesse werden wir euren Stand zusammenschlagen, dass die Fetzen fliegen … Auch in Reinbek räumen wir auf. Am Tage X! Kauft euch jetzt schon eine Prothese beim Zahnarzt. Wir boykottieren eure ganze Scheißliteratur! APO.“ Springers Welt, dem Rowohlt-Verlag keineswegs wohlgesonnen, wirft der gesamten bundesdeutschen Linken daraufhin vor, sich mit der „Zensur des Zonenregimes zu identifizieren“.

Im potenziellen Verbreitungsgebiet der „Rowohlt-Bomben“ werden die Enthüllungen derweil genüsslich kommentiert. So fragt im SED-Zentralorgan Neues Deutschland ein junger Redakteur namens Klaus Höpcke, später Bücherminister der DDR, ob der westdeutsche Verlag in Anbetracht seiner „Teilnahme an den Diversionsbomben-Aktionen des Bonner Ultrarechtsblocks“ noch tiefer sinken könne.

Das versucht Ledig-Rowohlt zu verhindern und leitet damit den vierten Akt des Dramas ein – das retardierende Moment. Er sagt die Teilnahme des Verlags an der Frankfurter Buchmesse ab, weil er in der Sache keinen unnötigen Zündstoff liefern will. Tatsächlich ist Frankfurt damals ein heißes Pflaster: 1968 war es zu Straßenschlachten gekommen, nachdem die Polizei Proteste des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) gegen die Verleihung des Buchhandelsfriedenspreises an den senegalesischen Präsidenten Léopold Senghor brutal aufgelöst hatte.

Von Raddatz fühlt sich Ledig-Rowohlt im Stich gelassen, weil der Cheflektor in Urlaub geflogen ist, während er, der Verleger, die Tumulte zu befrieden sucht. Gleichzeitig überdenkt er das Programm seines Verlags, das analog dem Programm anderer linker Häuser wie Luchterhand oder Suhrkamp einen eigenartigen Widerspruch repräsentiert: Rowohlt, ein kapitalistisch organisiertes Unternehmen, verlegt reihenweise Bücher, in denen die Überwindung des Kapitalismus propagiert wird. Finanziert werden diese Titel über eine Mischkalkulation, nach der Bestseller voller „falschem Bewusstsein“ die revolutionäre Literatur gegenfinanzieren. Dass sich der Förderer Ledig-Rowohlt von seinen linken Autoren auch noch Briefe schreiben lassen muss, in denen die ankündigen, „Dich mit anderen Liberalen im Prozess der Kulturrevolution entweder mit einer Papiermütze durch Hamburg [zu] jagen oder Dir einen Freiflug in die ČSSR [zu] besorgen“, fördert sicher seinen Entschluss, an den Stellschrauben des Verlagsprogramms zu drehen.

Doch der Versuch, die Balance wieder herzustellen, schlägt fehl. Es kommt zum fünften Akt des klassisch-absurden Dramas, der Katastrophe, einer kurzfristigen zumindest. Für Raddatz fehlt nach Ledig-Rowohlts Entschlüssen die politische und persönliche Basis für eine weitere Zusammenarbeit. Er, der schillernde Cheflektor, verlässt den Verlag. Mit Raddatz kündigt ein linker Autorentross die Gefolgschaft. Für Erschütterung – so zeichnet sich im Herbst 1969 ab – haben die Ballonbomben also nur im Rowohlt-Verlag gesorgt.

Konstantin Ulmer schrieb hier zuletzt über den französischen Schriftsteller Régis Debray

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