Der Schriftsteller hält gern Vorlesungen. In einer warnte uns Daniel Kehlmann: „Glauben Sie keinem Poetikdozenten. Misstrauen Sie Interviews gebenden Autoren“. Nun wollen wir aber genau das – den Autor interviewen, nicht zuletzt über seine nun in Buchform nachzulesende Frankfurter Poetikvorlesung.
der Freitag: Herr Kehlmann, dürfen wir Ihnen trotzdem trauen?
Daniel Kehlmann: Was ich gemeint habe: Auch wer schon ein paar Bücher geschrieben hat, hat noch kein Rezept, wie es funktioniert. Eine Poetikvorlesung besteht dann oft darin, dass man aus dem, was man mit Glück, Zufall und Mühe zustande gebracht hat, irgendwelche Regeln abstrahiert und dann so tut, als wären die Regeln vorher dagewesen. Deswegen misstraue ich auch dem Genre des Schriftstellerinterviews.
In Ihren Poetikvorlesungen haben Sie sich geschickt aus der Affäre gezogen: Statt die eigenen Texte zu erklären, haben Sie über andere gesprochen. In der ersten der fünf Vorlesungen entsteht so ein kulturelles Mosaik des Jahres 1959. Darin nimmt notabene Peter Alexander einen zentralen Platz ein. Neun Minuten seiner Filme reichen angeblich aus, um Günter Grass dankbar zu sein...
Dahinter steckt eine Anekdote, die wirklich passiert ist: Als das berüchtigte Israel-Gedicht von Grass erschienen ist, saß ich mit amerikanischen Freunden zusammen. Sie haben über das Gedicht gespottet, wofür es ja genug Gründe gab. Ich habe ihnen dann einen Ausschnitt aus einem Peter-Alexander-Film gezeigt. Meine Freunde, die das moderne Deutschland sehr gut kennen, waren vollkommen entgeistert, dass solche Filme im Nachkriegsdeutschland möglich waren. Von Grass und von der Gruppe 47 habe ich mich zwar ästhetisch immer ein wenig abgegrenzt, aber wenn man sich ansieht, in was für einem Klima die gearbeitet haben, dann muss man diesen Leuten sehr dankbar sein. Sie haben dafür gesorgt, dass Deutschland ein weniger neurotisches und irres Land geworden ist, als es das in den 50er Jahren war, denn sie haben das Land mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Für die in jeder Geste sichtbare Neurose der Verdrängung steht Peter Alexander mit seinen Filmen.
Ist es Aufgabe der Literatur, diesen Verdrängungsprozess zu stören?
Sicher nicht die einzige, aber eine wichtige. Gerade die Erinnerung an die unmittelbare Nachkriegszeit, dieses Nebeneinander von Mördern und Verfolgten, die irgendwie miteinander leben müssen, fasziniert mich sehr.
Bezieht sich das Shakespeare-Zitat „Kommt, Geister“, mit dem Sie die Vorlesungen überschreiben, also auf die Geister der Leichen, die im Keller liegen?
Ja, auch. In allen fünf Vorlesungen kommt die Frage vor, wie man mit den Verbrechen und Grausamkeiten umgeht, auf denen die menschliche Zivilisation aufgebaut ist. Eine Art des Umgangs ist die Gespenstergeschichte. Gespenster sind unser Grauen vor der Vergangenheit, vor allem der Vergangenheit der Gebäude, der Räume, in denen wir leben.
Sorgt die Literatur heute noch für die Bewältigung der jüngsten Vergangenheit?
Ja, natürlich. Gerade ist Thomas Brussigs wunderbarer Roman über eine fortbestehende DDR herausgekommen. In Berlin hat man ständig mit dem Phänomen zu tun, dass die Vergangenheit sehr präsent ist. Vera Lengsfeld hat mir erzählt, wie sie den Mann, der sie im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen verhört hat, beim Einkaufen wiedergetroffen hat. Allerdings ist das ein Thema für Autoren, die die DDR selbst erlebt haben, da muss ich mich nicht vordrängen.
Ihre Vorlesungen handeln von Autoren, die Sie geprägt haben: Bachmann, Gotthelf, Shakespeare, Nabokov ... Thomas Mann, an den ich immer denken muss, wenn ich Ihre Texte lese, wird nur marginal erwähnt. Warum?
Ach, Thomas Mann hat mich sicher sehr geprägt. Ich rede gern über ihn, wenn Sie das wollen.
Okay. Arbeiten Sie ähnlich diszipliniert wie Thomas Mann?
Nein, gar nicht. Bei Thomas Mann ist diese zwanghafte Disziplin ja zum Gemeinplatz geworden. Leute, die nie was von ihm gelesen haben, wissen ganz genau, dass er sich zum Schreiben immer die Krawatte angezogen haben soll. Das ist natürlich nicht das, was ich an ihm als vorbildlich empfinde. Mich hat zum Beispiel beeindruckt, dass er wirklich witzig ist, wenn er will. Und noch wichtiger: Er hat eine große emotionale Wucht. Das ist ja auch der Grund für seinen Welterfolg. Hinter all der Distanz verbirgt sich eine sehr große Gefühlsunmittelbarkeit.
Ist Thomas Mann auch ein Vorbild im Politischen?
Natürlich hat er den großen Fehler gemacht, den Ersten Weltkrieg willkommen zu heißen – wie übrigens fast alle. Er hat auch ein wenig zu lang gebraucht, sich zu distanzieren, als die Nazis an die Macht kamen. Aber als er sich dann distanziert hat, war das mit einer großen Kraft und Wirkung. Mein Vater hat mir erzählt, wie sich seine Familie im Krieg einmal die Woche vor dem Radio versammelt hat, ganz leise gedreht natürlich, damit die Nachbarn nichts hören, und auf die neue Rede von Thomas Mann gewartet, die von den Engländern nach Deutschland gesendet wurde. Die Reden sind von einer fantastischen Verve, weil er sich in ihnen ganz und gar vom Nationalismus verabschiedet. Als Lübeck bombardiert wird, sagt er, er denke an Coventry und sei einverstanden. Deswegen wurde er nach dem Krieg auch nicht willkommen geheißen. In dieser Hinsicht hat er politisch viel geleistet.
Nun sind Sie nicht gerade für politische Statements bekannt.
Wenn Sie mich etwas Politisches fragen, werde ich schon antworten, aber ich sehe es nicht als die Aufgabe des Schriftstellers an, den Leuten zu sagen, wen sie wählen sollen oder welcher Mindeststeuersatz der beste ist. Das ist eine Haltung, die von der Gruppe 47 herkommt und historisch ihre Berechtigung hat. Aber mittlerweile ist es zu einem Ritual erstarrt. Und es gibt eine merkwürdige Aggressivität: Ich werde immer gefragt, warum ich mich nicht äußere. Wer das anders hält, kriegt hingegen zu hören, er solle doch mal den Mund halten – Juli Zeh zum Beispiel. Das liegt, glaube ich, auch daran, dass eine Verwirrung herrscht, was die politisch-moralische Kompetenz von Schriftstellern angeht. Zu Recht: Es gibt keinen Diktator im 20. Jahrhundert, der nicht seine Unterstützer unter den Schriftstellern hatte. Man möchte Schriftsteller gerne noch als Autorität sehen, als wäre nichts gewesen, aber zugleich spürt man, es geht nicht mehr so recht.
Zurück zur Poetik: In den Vorlesungen beschreiben Sie Einfälle, die sich in Ihren Texten finden, als Ergebnis Ihrer Lektüre.
Sogar das kommt vor. Aber es geht eher um Prägung. Das, was man selber macht, erfindet, schreibt, ist immer auch ein Echo auf andere Texte, die einen beeindruckt haben. Für die Vorlesungen habe ich mich mit Shakespeares Sommernachtstraum auseinandergesetzt, da ist in jeder dritten Zeile eine literarische Anspielung. Heute wird es als etwas Negatives gesehen, wenn Literatur Anspielungen enthält. Als ob es dann nicht genug Bezug zum Leben hätte – dem Leben mit großem L, wie das Kundera spöttisch nennt.
Einige sagen, Daniel Kehlmann schreibe aus Lektüreerfahrung, andere Autoren, wie beispielsweise Clemens Meyer, aber aus Lebenserfahrung.
Ja, das ist ein Klischee, das mir übrigens im Ausland nie begegnet. Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, dass nach dem großen Erfolg der Vermessung manche Leute partout etwas Schlechtes über meine Sachen sagen wollen. Aber letztlich denke ich mir: Es gibt wirklich schlimmere Dinge, die einem vorgeworfen werden können.
Was halten Sie denn allgemein von der Literaturkritik? Sie schreiben ja selbst oft über Literatur.
Aber kaum noch Rezensionen. Ich habe das gerne gemacht, und früher war es auch eine schöne Art, die Miete zu bezahlen. Aber ich habe damit aufgehört, weil mein Essayband Lob, eine Sammlung von Kritiken, in den gleichen Zeitungen verrissen wurde, die die Texte vorher bestellt und abgedruckt hatten, manchmal sogar von den gleichen Redakteuren. Inzwischen war eben Die Vermessung der Welt erschienen. Da hab ich mir gedacht, ist mir zu blöd.
Und was halten Sie von der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur?
Ich selber bin mehr von der nord- und südamerikanischen Literatur geprägt, aber es gibt natürlich großartige Autoren. Max Goldt zum Beispiel.
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