Spricht man über institutionelle Zensur, sind die üblichen Verdächtigen schnell angezählt: China, Nordkorea, Kuba, grob und generell der Nahe Osten, die postsowjetischen Staaten und – noch gröber und genereller – viele Länder in Afrika. Spricht man etwas spezieller über Literaturzensur – gar über eine solche in Deutschland – gilt das gewöhnlich Vergangenem: dem NS-Regime oder den gut 40 Jahren des zweiten deutschen Staates.
Doch auch die Bundesrepublik Deutschland hat durchaus an einer Geschichte der Literaturzensur geschrieben, deren Umfang beachtlich ist. Das wohl berühmteste Beispiel ist Klaus Manns Roman Mephisto, der 1971 sogar das Bundesverfassungsgericht beschäftigte, nachdem die Nymphenburger Verlagsbuchhandlung Einspruch gegen das Publikationsverbot von 1966 erhoben hatte. Die Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos: Der „post-mortale Persönlichkeitsschutz“ für den Schauspieler und Regisseur Gustaf Gründgens – Günstling Hermann Görings und reales Vorbild für Manns Mephisto-Protagonisten Hendrik Höfgen – galt drei von sechs Richtern mehr als die Kunstfreiheit.
Als Schlüsselroman lasen die zuständigen Gerichte im Jahr 2003 auch Maxim Billers Esra. Dies führte dazu, dass der Klage der Ex-Freundin des Autors gegen das Erscheinen stattgegeben wurde. Zahlreiche andere Bücher wie Vladimir Nabokovs Lolita oder American Psycho von Bret Easton Ellis standen oder stehen auf dem Sex-and-Crime-Index, der die Jugend vor moralzersetzender Pornografie und Gewalt schützen soll.
Als Kochrezept
Ein eher unbekanntes Teilkapitel in der Chronik bundesrepublikanischer Literaturzensur ereignete sich fernab von Sex-and-Crime sowie Persönlichkeitsschutz im Sommer 1976. Dass diese eher marginale Episode heute fast vergessen ist, überrascht nicht unbedingt – denn klein war sie im buchstäblichen Sinn: Seinerzeit wurde kein Buch verboten, sondern nur ein Absatz gestrichen, ein einziger Absatz aus einem 260-seitigen Roman. Damals, 1976, folgte diesem kleinen Eingriff freilich eine große öffentliche Debatte. Und das nicht nur, weil ein umstrittener Paragraf hier auf den Zeitgeist prallte, sondern auch, weil es die wahrscheinlich einzige Zensurmaßnahme der deutschen Geschichte ist, für die ein Preis verliehen wurde: Der Verband des linken Buchhandels zeichnete den Luchterhand Verlag, in dessen Programm das beschnittene Buch erschienen war, mit dem eigens ausgelobten Goldenen Maulkorb aus.
Auslöser für die wenig ruhmvolle Prämierung war Régis Debrays autobiografischer Roman Der Einzelgänger. Der Autor, seines Zeichens Schriftsteller, Journalist, Revolutionsphilosoph, ehemaliger Gefährte Che Guevaras in Bolivien und Berater Salvador Allendes in Chile, hatte seine Hauptfigur Frank die lateinamerikanische Revolutionsbewegung der siebziger Jahre noch einmal durchleben lassen. Da seinerzeit zu einer Revolution auch Sprengstoff gehörte, hatte Frank seinem Dynamit besessenen Dialogpartner Armando eine Anleitung zum Bombenbau in Form eines Kochrezepts beschrieben. Wo in der französischen Originalausgabe des Pariser Verlags Le Seuil die Anleitung zur Sprengstoffmischung stand, fand sich in den Presseexemplaren des Luchterhand Verlags eine Lücke mit der viel sagenden Fußnote: „Im Hinblick auf Paragraf 88a kann der Verlag das hier erwähnte Rezept nicht wiedergeben.“
Besagter Paragraf war nach monatelangen Verhandlungen am 1. Juni 1976 in Kraft getreten und sollte als Zusatz zum Passus über verfassungsfeindliche Sabotage vorrangig das Umfeld der RAF treffen. Das Besondere am Maulkorb-Paragrafen 88a war die Vorverlegung der Strafbarkeit in besonders delikatem Maße: Das Werfen einer Bombe war ohnehin ein Delikt, ebenso der Besitz von Sprengstoff. Jetzt jedoch konnte jedes Schriftstück eine Geld- und Freiheitsstrafe nach sich ziehen, das „nach den Umständen geeignet ist“, so der Gesetzestext, die Bereitschaft anderer zu einer Straftat „gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze“ zu fördern. Davon betroffen konnte jede Tätigkeit bei der Produktion oder Verbreitung von Texten sein. Der Paragraf definierte öffentliches Ausstellen, Anschlagen, Vorführen und Zugänglich-Machen, Herstellen, Beziehen, Liefern, Anpreisen und Vorrätig-Halten einer inkriminierten Schrift als Tatbestand. Ausgenommen waren zwei Gebiete: Wissenschaft und Kunst.
Heftige Reaktion
Kurz nachdem am 18. und 19. August 1976 die erste große Polizeiaktion unter Berufung auf den 88a gegen die Zeitschrift Revolutionärer Zorn für Empörung unter vielen Linken gesorgt hatte, kam nun also Debrays Roman Der Einzelgänger auf den Markt – ohne das Sprengstoffrezept, versteht sich. Strittig schien der Fall schon deswegen zu sein, weil das Buch als Kunstwerk galt. Zum Skandal wurde er jedoch wegen eines Fehlers beim Umbruch: In der Ausgabe für den Buchhandel war die erläuternde Fußnote verschwunden, was die Literaturkritiker, die noch ihre Vorausexemplare auf dem Schreibtisch hatten, sofort bemerkten.
Die Reaktion war heftig: Luchterhand, eigentlich als progressiver Verlags bekannt, stand nun sinnbildlich für ein „duckmäuserisches Klima und eine verschwiegene Vorzensurpraxis“. Das Haus galt als freiwilliger Büttel der Obrigkeit, der mit seinem vorauseilenden Zensurgehorsam „ein böses Zeichen für den Geist der Duckmäuserei“ geschaffen habe. Neben den Feuilletonisten meldeten sich auch die Kollegen von Rowohlt öffentlich zu Wort und kritisierten die Streichung der Passage als Akt der „musterknabenhaften Selbstentmündigung eines renommierten Verlages“. Debray selbst packte die Faschismus-Keule aus: Ihm, einem französischen Demokraten, habe der deutsche Staat schon immer Angst gemacht – jetzt noch mehr als vor der Zensurgeschichte. Schließlich gingen großen Verbrechen meist kleine Dummheiten voraus. Da spielte es auch keine Rolle mehr, dass er über seinen Agenten zumindest der Fußnoten-Version zugestimmt hatte, und Luchterhand bald öffentlich erklärte, künftig „im Zweifelsfall für die Freiheit der literarischen Äußerung“ einzutreten.
Immerhin, der Paragraf 88a war plötzlich in aller Munde. Selbst der Frankfurter Börsenverein für den deutschen Buchhandel – im literarischen Leben nicht unbedingt als linksradikale Zelle bekannt – forderte eine Debatte über Kommunikationsdelikte und Kunst. Und tatsächlich blieb das Beispiel des Einzelgängers einzigartig – zumindest in Bezug auf die Belletristik. Hinsichtlich politischer Pamphlete sorgte der Passus in den Zeitschriftenredaktionen, Druckereien, Buchhandlungen und Bibliotheken weiterhin für Verunsicherung, zumal die Verfahren nicht ausblieben. Wenige Monate nach der Einführung des Paragrafen veröffentlichte der Verband des linken Buchhandels unter dem Titel 88a in aktion oder wie man bücher verbrennt, ohne sich die finger schmutzig zu machen eine Dokumentation der „Staatsschutzaktionen“. Und die führte natürlich prompt zu weiteren Durchsuchungen. Drei Jahre nach Inkrafttreten waren über 100 Ermittlungsverfahren mithilfe des Maulkorb-Paragrafen eingeleitet worden, von denen dann aber der größte Teil mangels Beweisen eingestellt wurde. 1981 wurde der Paragraf 88a auf Antrag der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP wieder aus dem Strafgesetzbuch gestrichen – übrigens gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag.
Bis dahin blieb Luchterhand der einzige Verlag, der aus Gehorsam gegenüber einem Paragrafen schöne Literatur zensiert hatte – und dafür sogar mit der ironischen Ehrung ausgezeichnet worden war. Im Trophäen-Schrank des Verlags landete der Goldene Maulkorb wohl kaum. Dabei konnte sich Luchterhand des zweifelhaften Ruhms erfreuen, einziger Preisträger zu sein. Der Verband des linken Buchhandels beließ es bei der einen Ehrung im Jahre 1976.
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