Günter Grass und die Gemeinde seiner Feinde

Weisheit Heute wird der Nobelpreisträger 85. Und es gibt neue Gedichte, aus denen auch Selbstkritik spricht. Wir gratulieren

Als Gerhard Henschel sich neulich im Freitag an den Altbundeskanzler Birne Kohl erinnerte, musste in einem Nebensatz auch Günter Grass dran glauben. Den beiden beleidigten Leberwurstrivalen geschähe es recht, so Henschel, wenn sie eines Tages als siamesische Zwillinge wiedergeboren würden. Zugegeben, das ist fies. Man stelle sich vor: Der kleine, zähe Dichter Grass verwachsen mit dem barocken Riesen Kohl, den der Spiegel einst auf „238 Pfund Lebendgewicht“ schätzte. Man stelle sich vor: Der Springer-Kritiker hängt an dem Bild-Liebling, wenn letzterer Kai Diekmann als Trauzeugen aufbietet. Man stelle sich vor: Wenn der eine nach der Trauung seines Zwillings wenigstens tanzen gehen will, möchte der andere lieber eine Hochzeitstorte aus Pfälzer Saumagen verspeisen.

Dennoch: Henschels Randnotiz über die beiden langjährigen Gegenspieler ist im Vergleich zu dem, was Grass in diesem Jahr sonst noch über sich lesen konnte, geradezu liebevoll. Scharf war der Tenor insbesondere nach dem Israel-Gedicht Was gesagt werden muss, veröffentlicht im April 2012: Grass, das war der ehemalige SS-Mann, der heute wie einer schreibt. Der ewige Antisemit. Der moralische Bankrotteur. Und so weiter. Wenigstens war es seine „letzte Tinte“ – so hieß es im Gedicht.

Nachdenklich

Doch irgendwo hat Grass offensichtlich noch ein Fässchen gefunden, denn pünktlich zu seinem 85. Geburtstag erschien jetzt der Gedichtband Eintagsfliegen. Ein paar Verse widmet er darin auch der „Gemeinde meiner Feinde“, die „treffsicher nur aus dem Hinterhalt“ seit Jahren auf ihn feuert: „Haltet in Treue zu meinesgleichen,/ denn ohne Autoren bliebe/ Euch Wiederkäuern nur dürre Wiese und Trockenfutter als Fraß.“ Motto: Macht ruhig weiter, das saftige Grün meiner Dichtung und mein zähes Ego bleiben unverdaulich. Und tatsächlich: Das Vokabular des Grass-Bashings in diesem Jahr verrät, dass sich manch ein Rindvieh der Kritik an ihm übernommen hat. Neid und Abneigung sind manchmal stilbildend.

Nachdenklich scheint Grass allerdings zu stimmen, dass auch seine Näheren in der Debatte um das Israel-Gedicht Distanz hielten: „Selbst Freunde, die sich bedeckt halten,/ nehmen neuerdings Abstand und grüßen/ mit spärlicher Geste nur noch von weitem.“ Immerhin, ein paar kann der Jubilar zu seiner offiziellen Geburtstagsfeier in Lübeck noch um sich versammeln, vom Ministerpräsidenten Torsten Albig über den Schriftsteller Feridun Zaimoglu bis hin zu Spaßjazzer Helge Schneider – allerdings, so munkelt man, hat es auch die ein oder andere Absage gegeben.

Eine Staatsfeier war aber ohnehin nicht notwendig, denn als Nationaldichter taugt der Nobelpreisträger Grass der öffentlichen Meinung lang nicht mehr. Zu zornig ist er, zu bärbeißig, zu wenig Schriftsteller, zu viel Politiker. Da hilft auch seine Liebeserklärung an ein „gewisses Land“ nicht, „dem ich verhaftet bin/ notfalls als Splitter im Auge.“

Kann man im letzten Vers eine Spur Selbstironie, vielleicht sogar Selbstzweifel entdecken? Der einstige Messdiener wird schließlich kaum vergessen haben, dass der Splitter im Auge des anderen oft leichter zu sehen ist als der Balken im eigenen. Ansonsten schenke man Grass das Neue Testament mit der Bergpredigt. Und wenn man schon dabei ist, dann schenke man ein zweites Exemplar der bloggenden Clown-Kombo von der Achse des Guten, die über die Eintagsfliegen mit gewohntem Witz titelte: „Der alte Sesselpupser kanns nicht lassen.“ Und das, lieber Herr Grass, ist irgendwie auch gut so. Wir gratulieren.

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