Warten auf den Wolf

Schnapp! Gianna Molinari montiert, collagiert und stellt uns viele Fallen
Ausgabe 28/2018
„Auf der Welt“, stellt die Erzählerin fest, „gibt es Stellen von Nichts. Der Wolf ist eine davon.“
„Auf der Welt“, stellt die Erzählerin fest, „gibt es Stellen von Nichts. Der Wolf ist eine davon.“

Foto: Photocase/Imago

Die Welt, so munkelt man, ist voller Möglichkeiten. Man kann zum Beispiel noch mal bei null anfangen. Das Konto auflösen, alle Verträge kündigen, einfach losziehen. So wie die Erzählerin aus Gianna Molinaris Debüt Hier ist noch alles möglich. Ihr Neustart fällt allerdings ziemlich skurril aus: Sie, eine ehemalige Bibliothekarin, die endlich Teil einer Geschichte (oder mehrerer Geschichten) werden will, nimmt eine Stelle als Nachtwächterin in einer Fabrik an, die kurz vor der Schließung steht, irgendwo am Rande einer kleinen Stadt.

Nur ein paar Gestalten huschen noch über die Bildschirme der Überwachungskameras: der Firmenchef, Kollege Clemens, ein Koch, der in der leeren Kantine die Tiefkühltruhe füllt, und der Fabrikarbeiter Lose, der sich als „einer der Letzten“ vorstellt. Die Bibliothekarin beschließt, auch in der Fabrik zu wohnen. Denn ausgerechnet hier, meint die Erzählerin, „ist noch alles möglich“. Und tatsächlich: Ein Wolf soll auf dem Fabrikgelände herumlaufen. Tellereisen werden aufgestellt, eine Falle gegraben. Und während die Erzählerin ihre Umwelt inventarisiert, Fotos macht, ihr Universallexikon ergänzt, notiert und sortiert, fehlt immer etwas. „Auf der Welt“, stellt sie fest, „gibt es Stellen von Nichts. Der Wolf ist eine davon.“

Das Warten auf den Wolf ist wie das Warten auf Godot: Er ist der Abwesende, aber auch der Allgegenwärtige. Zu dem unerhörten Nicht-Ereignis kommt bald ein unerhörtes Ereignis aus der Vergangenheit: Vor acht Jahren ist nahe der Fabrik jemand vom Himmel gefallen. Buchstäblich. Der Mann, der vom Himmel fiel – ein Flüchtling, wie sich herausstellt, der sich wahrscheinlich in der Radaufhängung eines Flugzeugs versteckt hatte –, führt zu einer weiteren Verunsicherung des Sichergeglaubten. So traut Lose, der als Hobbyjäger das Ereignis vom Hochsitz aus beobachtete, seinen Augen nicht mehr. Seine Weltsicht sei unscharf geworden. Da hilft auch die Mappe nichts, in der er alle Informationen zu dem Fall dokumentiert hat.

Für „Loses Mappe“, wie die Binnenerzählung als Einzelstück hieß, hat Gianna Molinari, Jahrgang 1988 und Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts Biel, im vergangenen Jahr die 3sat-Auszeichnung beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt erhalten. Loses Mappe bietet Montagematerial und Molinari montiert gerne: Neben einigen Zeitungsausschnitten zum Mann, der vom Himmel fiel, stehen außerdem noch eine Handvoll Fotos und Strichzeichnungen der Erzählerin im Text, Inselumrisse zum Beispiel, die „Inselkapitelchen“ vorangestellt sind. Deren kürzestes: „Ich stelle mir eine Insel vor, auf der Wölfe bereits mit Tellereisen an den Füßen geboren werden und in keine weiteren treten können.“ Vorstellbar scheint im Laufe der Erzählung ohnehin fast alles: In der Stadt hängen bald Phantombilder einer Bankräuberin aus, die der Erzählerin erstaunlich ähnlich sieht.

Dieser Grenzauflösungsplot wird im Roman in langsamen, tastenden Sätzen erzählt. Doch unter deren Oberfläche sind Tellereisen aufgestellt, die, tritt man aufmerksam herein, zuschnappen, manchmal vielleicht etwas zu leicht.

Ein Kleinod ist der Text dennoch. Das hängt auch damit zusammen, wie sich Hier ist noch alles möglich durch thematisch vermintes Gelände bewegt. Der Roman lässt sich als postmoderne Literatur der Arbeitswelt beschreiben, es taucht ein Flüchtling auf, und das auch noch in der Falling-Man-Ikonografie, es geht um Grenzen und Grenzüberschreitungen, um Sicherheit und gefühlte Bedrohung. Da tritt man leicht auf die eine oder andere Phrase. Molinari nicht. Und der Wolf, der zwischendurch leibhaftig (oder auch nicht) von den Erzählerinnenaugen gesehen worden war, ist am Ende verschwunden.

Info

Hier ist noch alles möglich Gianna Molinari Aufbau 2018, 192 S., 18 €

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