„Man muss zunächst mal zugeben, dass das Altern scheiße ist.“ Eigentlich wollte ich den Lektor bitten, diesen Satz zu streichen. Er war mir peinlich. Aber ich hab ihn nun mal gesagt, so ähnlich steht es wohl auch in meinem Buch Die Kunst des Scheiterns (2009) geschrieben. Was hat sich geändert seitdem?
Ich bin älter geworden. Noch älter. Und ich find es gar nicht mehr so schlimm, das Altsein. Und ich bin froh, dass ich das nicht aus irgendwelchen Ratgebern nachplappern muss, sondern es erfahren durfte.
Das Alter birgt in seiner Zerbrechlichkeit seine eigene Schönheit des Soseins. Des Seins ohne immer neuen Anspruch und Ehrgeiz, mag sein: nicht ganz ohne neue Eitelkeit, aber doch mit weniger albernem Rumgegockel, Aufplustern und Alles-besser-wissen-Wollen.
Als ich 50 wurde, dachte ich, die Welt geht unter, weil meine Jugend nun endgültig vorbei ist. Als ich 60 wurde, bereitete mir die 6 vor der Null noch schlaflose Nächte. Auf meinen 70. nun freute ich mich richtig. Das Alter macht mir keine Angst mehr. Es ist da, und ich hab es dankend angenommen.
Jubel und Spott
Alles passiert nun mal immer nur in der Gegenwart. Wenn Sie jetzt dieses Buch lesen, werden Sie es in der Gegenwart lesen, und ich schreibe es im Jetzt. Egal wie jung ich anscheinend mal war. Bin ich altersmilde geworden? Beileibe nein! Aber die Wut konzentriert sich erfahrener und auf weniger Ärgernisse – dafür die echten. Speziell die Generation der 68er hat geradezu die Verpflichtung, weiter aufzubegehren gegen die „rassistisch-identitäre Aggression, die Europa droht“.
„Ich möchte es nicht Faschismus nennen“, schreibt Franco Bifo Berardi, der italienische Philosoph, der mir sehr ans Herz gewachsen ist in den letzten Monaten, „aber ich denke, es ist etwas sehr Ähnliches.“
„Junge Leute, die in den Staaten für einen alten Sozialisten stimmen – das ist ein ironisches Ereignis“(gemeint ist natürlich Bernie Sanders). Für Berardi ist die Ironie eine der Fluchtlinien, für mich ist es die Poesie. Und sie ist nicht nur eine Fluchtlinie, sondern eine Möglichkeit des Widerstands.
Die 68er- und die Hippie-Bewegung ist eine der wichtigsten kulturellen Revolten der Weltgeschichte. Vielleicht seit dem Erscheinen des Revolutionärs aus Nazareth.
Vieles anscheinend Unverrückbare wurde in den Sechzigern und Siebzigern in Frage gestellt. Der Zwang zu Leistung, Ehre, Nationalismus und autoritärer Pädagogik wurde hinterfragt, umgestürzt, Tabus wurden zerschmettert und in ihre Bestandteile zerlegt, Spiritualität und Mystik wurden dem platten Rationalismus und hysterischen Materialismus entgegengestellt. (…) Wer damals aufwachsen durfte, kannte erst mal keinen Respekt vor sogenannten Autoritäten und keine Angst davor, sie vom selbst gebauten Sockel zu stürzen. Und das ist vielen meiner Generation bis heute geblieben.
In meinen Konzerten sind viele Menschen über 60. Oft ist das ein Grund zum Spott bestimmter Kritiker, die wohl meinen, dass Grauhaarige kein Recht mehr haben auf Musik, politischen Durchblick, frenetischen Jubel, Aufspringen von den Sitzen oder auch tiefe Betroffenheit.
Mittlerweile schmunzelnd stelle ich fest, dass gerade uns „alten Säcken“, diesen „Ewiggestrigen“ das Recht auf Empörung und Engagement von meist jüngeren Journalisten abgesprochen wird. Vielleicht weil sie sich selbst bereits allzu bequem im System eingerichtet haben? Aber ist politisches Aufbegehren denn ein ausschließliches Recht der Jugend? Das sei ihnen gern zugestanden. Aber wenn sie dazu zu träge ist, zu eingelullt, zu erfolgsgeil, dann müssen halt wir herhalten.
Es wäre schön, wenn sich auch die Jugend wieder begeistern ließe für ein engagiertes, freches, antiautoritäres Leben, manchmal gelingt das auch. An meinen eigenen Söhnen darf ich ja – manchmal nicht ohne väterliche Sorge – erleben, dass einige Jugendliche sich durchaus frei und unangepasst gesellschaftlichen Zwängen entziehen.
Ein Satz Martin Bubers ist mir mittlerweile ein Anker geworden im aufgepeitschten Meer: „Erfolg ist kein Name Gottes.“ Wir müssen lernen, auch im eigenen Inneren den sogenannten Werten einer konsum- und gewinnfixierten, den wirtschaftlichen Zugewinn wie einen Götzen anbetenden erfolgsgeilen Gesellschaft zu widerstehen. (Wie gerne sähe ich Bubers Satz als Banner über der Wall Street …)
Je weniger wir uns abhängig machen von der Hoffnung auf geldwerte Erfolge, umso mehr werden wir uns auf den Wert und das Richtigsein unserer Arbeit konzentrieren (Thomas Merton). Ich weiß nicht, ob wir den ganzen Wahnsinn aushalten können, dieses aus den tiefsten Gründen der Unvernunft von gewissenlosen Populisten und der zynischen Vernunft von Großprofiteuren wiedererweckte völkische, nationalistische, rassistische, kleingeistige und zutiefst inhumane Gespenst. Ein Rückschritt in dunkelste Zeiten, der uns als Fortschritt verkauft werden soll. Aber wir werden es versuchen. Also: keine Altersmilde! „Wut UND Zärtlichkeit“, habe ich vor vier Jahren geschrieben.
Als ich meinen ersten und leider einzigen gemeinsamen Auftritt mit Bernie Glassman in einer Berliner Kirche hatte, war Bernie bei der anschließenden Diskussion erst mal gegen mein Plädoyer für die Wut eingestellt. Er kam gerade von seinem Retreat in Auschwitz und war voll der Liebe. Ich meinte, ihn an sein großartiges Hilfsprojekt mit New Yorker Obdachlosen erinnernd, dass wir ohne Wut politisch doch nie etwas bewirken könnten. Wir müssten uns doch erst mal über ungerechte Zustände empören, um sie dann zu ändern.
Bernie lächelte mich auf seine unvergleichliche Art an und meinte dann, mir zustimmend, dass die Wut doch notwendig sei. Aber handeln dürfen wir nur aus Liebe und nicht aus Wut. Das sehe ich genauso.
Dem Alter und seiner zunehmenden Zerbrechlichkeit ist mehr abzugewinnen, als es uns eine gierige, hauptsächlich an der Jugend verdienende „Marktwirtschaft“ weiszumachen versucht. Die Menschenwürde im Grundgesetz ist ja doch viel mehr als eine vernünftige, durchdachte, solidarische Rentenformel: Sie ist auch Kultur, sie hat mit den Bewegungen der Seele noch mehr zu tun als mit Expertenwissen. Denn sie verabschiedet sich von jedweder Diskriminierung. Statt Nietzsches „Herrenmensch“ gilt da Maxim Gorkis Satz: „Das Heiligste sei der Mensch!“ Wer sich dafür entscheidet, bewertet Alt und Jung, Leben und Arbeitskraft anders als nach der Verwertbarkeit.
Junge Hunde
Gerade die altersbedingte Unabhängigkeit von den allzu sehr auf Äußerlichkeit schielenden Accessoires, dieses nicht mehr um jeden Preis überall Dabei-sein-Müssen, der oft auch durch mangelnde körperliche Fitness bedingte Rückzug in die Stille, ins Betrachtende, Meditative – das alles und noch viel mehr erlaubt dem alten Menschen eine Sicht auf die Welt und ihr Geschehen, die einem früher nur bruchstückhaft und ausnahmsweise gestattet war.
Natürlich gilt das nicht für alle Menschen. Es gibt sehr alte, ja geradezu weise junge Menschen, oft eher die Zurückgezogenen, Einsamen, oft auch Leidenden, junge Menschen, die mich schon immer fasziniert haben wegen ihrer unkonformen und nicht uniformen Lebensweise.
Auch ich durfte manchmal Einblick nehmen – in kreativen Augenblicken – in ein mir fremdes Universum, in eine Geistigkeit, die meiner damaligen Verfassung eigentlich nicht angemessen war, aber erst jetzt beginne ich, die Früchte dieser Geschenke wirklich zu genießen.
Richard Rohr, ein von katholischen Hardlinern wegen seines Eintretens für Homosexualität gehasster Franziskanerpater, spricht vom „heiligen Narren“ – dem alten Mann, der Gegensätze miteinander zu verbinden vermag, der viel erlebt und viel losgelassen hat und gerade deshalb alles besitzt. Auch John Lennons „Fool on the hill“ ist ein Gegensatz zum „verbitterten Narren“, dem das Leben dermaßen zugesetzt hat, dass er negativ und zynisch wurde, dass ihm die Welt zu einem Ort des Schreckens geworden ist, dem er nicht mehr entgegenstrebt.
Vor etwa zwanzig Jahren bin ich zufällig auf den Kirchenkritiker Richard Rohr gestoßen, und schon damals schien mir der heilige Narr sympathischer zu sein als sein verbittertes Pendant. Nun, ein Narr zu sein, schien mir in jedem Fall erstrebenswert. Wie heilig ich dabei bin, sei erst mal dahingestellt. Schon immer hielt sich ja meine Heiligkeit – wie man weiß – in Grenzen, und in Momenten akuten Größenwahns hat mir dankenswerterweise mein Schicksal immer sofort einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Ja, nicht nur meine Lieder waren meist klüger als ich, auch mein Lebensweg war weitaus besonnener und hat mich, wenn es sein musste, kräftig durch den Dreck geführt, leiden lassen, zur Demut angewiesen. Jungen Hunden steckt man manchmal den Kopf ins Häufchen, um sie zur Reinlichkeit zu erziehen. Mir wurde, von wo auch immer, der Kopf immer wieder kräftig gewaschen. Auch das erfüllt mich heute mit Dankbarkeit, auch wenn ich oft kräftig gemurrt und mich selbstmitleidig beklagt habe. Was gibt es denn Besseres, als ein Narr zu sein in dieser pragmatischen und sinnfreien Welt? Nicht weil man sie dadurch besser verstehen könnte, sondern weil man ihr dadurch liebevoller und dennoch rebellisch begegnen und entgegenstehen kann.
Ich bin nicht am Anfang und auch nicht am Ende. Im Mittendrin. Und in der Hoffnung auf weitere Sommer, die nicht mehr weit sind, will ich versuchen, nach Maßgabe dessen, was mir gegeben ist, das Beste zu tun.
Dieser (leicht gekürzte) Text erscheint am 25.2. in dem Sammelband Rente und Respekt (mit Beiträgen u. a. von Sahra Wagenknecht und Martin Schulz)
Rente und Respekt! Das rot-rote Buch fürs Älterwerden Diether Dehm, Christian Petry (Hrsg.) Das Neue Berlin 2020, 96 S., 8 €
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