Im Namen des Volkes: Hinrichtungen in Leipzig

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Als mir die kleine Gedenktafel an der Außenmauer des Leipziger Amtsgerichtes zum ersten Mal aufgefallen war, konnte ich es kaum glauben. In diesem Gebäude sollen bis in die 80er Jahre hinein Menschen hingerichtet worden sein. Im Namen des Volkes.

Gestern nun bot sich im Rahmen der Leipziger Museumsnacht die Gelegenheit, die zentrale Hinrichtungsstätte der DDR zu besichtigen. Die Schleuse, die Verwahrzelle, den Hinrichtungsraum. Mir schaudert noch immer.

Zwischen 1960 und 1981 wurden mitten in der belebten Leipziger Südvorstadt 64 Menschen hingerichtet – ausschließlich Männer. Bis 1968 geschah dies durch die Guillotine. Wirklich: Man hat den Verurteilten auf ein bewegliches Brett geschnallt, ihn darauf unter eine Klinge geschoben und seinen Kopf nach dem Herabfahren der Klinge in einem Eimer aufgefangen. Das war praktisch, weil der Verstorbene in diesen Eimer ausbluten konnte.

Nach 1968 erfolgten die Hinrichtungen durch einen "unerwarteten Nahschuss ins Hinterhaupt". Der Verurteilte wurde in den Vollstreckungsraum geführt, dessen Tür nach innen öffnete. Hinter der Tür versteckte sich der Henker mit geladener Pistole. Nachdem das Urteil nochmals verkündet wurde trat der Henker zügig von hinten an Verurteilten heran und erschoss ihn. Die Leichen wurden in einfachen Kiefernsärgen umgehend im nahegelegenen Krematorium auf dem Leipziger Südfriedhof verbrannt. Entweder deklariert als anonyme Einäscherung oder als Anatomieleichen oder als organischer Abfall aus der Universitätsklinik.

Für Hermann Lorenz waren die Erschießungen ein lukrativer Nebenverdienst. Hauptberuflich war er Abteilungsleiter in dem Gefängnis, in dem sich auch die Hinrichtungsstätte befand. Für jede mit seinen Händen durchgeführte Hinrichtung bekam der Teilzeit-Henker jedoch 150 Mark extra.

Von der Hinrichtungsstätte wusste kaum jemand in der DDR. Selbst die Angestellten des Gefängnisses vermuteten hinter der stets geschlossenen Tür gleich hinter dem Gefängnistor die Wohnung des Hausmeisters. Tatsächlich wurden die Räume auch so genutzt, bevor man alle Fenster zumauerte um darin eine Verwahrzelle und den Hinrichtungsraum einzurichten.

Vor ihrem Tod durften die Verurteilten einen letzten Wunsch äußern. Speisen? Getränke? Zigaretten? Von ihren Angehörigen durften sie sich nicht verabschieden, bekamen jedoch die Gelegenheit einen Abschiedsbrief zu verfassen. Keiner dieser Abschiedsbriefe wurde jemals zugestellt. Stattdessen finden sich ausnahmslos alle fein säuberlich abgeheftet in der jeweiligen Akte beim Ministerium für Staatssicherheit.

Todesurteile konnten in der DDR wegen Mordes, Verbrechen mit nationalsozialistischem Hintergrund und Staatsverbrechen, Wirtschaftsverbrechen sowie Spionage gefällt werden. Nicht selten jedoch wurden die Tatvorwürfe manipuliert oder Gesetze gebeugt, um unangenehme Zeitgenossen aus dem Weg zu schaffen.

Sehr deutlich nachvollziehbar ist das im Fall des vermutlich letzten Hingerichteten der DDR Dr. Werner Teske, zu dessen Schicksal eine sehr bewegende Dokumentation produziert wurde. Darin sind Tonbandaufzeichnungen der Anklage, der Verteidigungsrede des Angeklagten und auch des Urteilsspruches zu hören. Teske wurde erschossen, weil er Unterlagen aus Stasi-Büros mit nach Hause genommen hatte.

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Es ist schwierig für mich zu beschreiben, was im Vollstreckungsraum in mir vorging. Ich bin in die DDR geboren, und zwar in ein Umfeld das vom Sozialismus überzeugt war. Das nicht nur Teil des Systems war, sondern das an dessen Aufrechterhaltung mitgearbeitet hat. Natürlich: Kaum jemand wusste von den politischen Morden, die in der Leipziger Alfred-Kästner-Straße begangen wurden. Aber die Menschen lebten in einem Geist, der das möglich machte. In einem Land, in dem heute selbstverständliche Freiheiten unerreichbare Ideale waren. In einem Rechtssystem, das soweit gebeugt wurde, dass in dessen Namen grundlegende Menschenrechte gebrochen werden konnten. In einer Gesellschaft, in denen den Familien sogar die Beerdigung ihrer hingerichteten Angehörigen verwehrt wurde.

Das alles ist Geschichte, ich weiß. Aber ich glaube nicht daran, dass die Menschen dümmer waren damals, roher oder weniger fähig zu Moral und Mitgefühl. Vielmehr glaube ich, dass unsere heutige Freiheit sehr fragil ist, glaube ich. Und auch, wenn das auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun hat, finde ich, dass uns diese Fragilität bewusst sein sollte, wenn wir unsere Privatsphäre in die Cloud verschieben und "Ich habe doch nichts zu verbergen!" rufen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kopfkompass

Wannabe alternative mainstream critic. Artist. Photographer. Videographer. Queer. Pre-Buddhist. Post-Genderist. Banker. Nerd. Dog-Daddy. Green. Vegan.

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