Margot Käßman, Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, wird mit 1,5 Promille Alkohol im Blut nach dem unbeeindruckten Überfahren einer roten Ampel von der Polizei gestoppt. Diese Verfehlung könnte ihr das Amt kosten. Dabei bietet sie die seltene Gelegenheit, die Glaubwürdigkeit moralischer Instanzen neu zu definieren.
Seitdem Käßmann im Oktober letzten Jahres Wolfgang Huber an der Spitze der evangelischen Kirche in Deutschland ablöste, kommt die Organisation nicht mehr zur Ruhe. Die Tatsache, dass Käßmann a.) eine Frau und b.) obendrein geschieden ist, genügte der russisch-orthodoxen Kirche die Zusammenarbeit mit der evangelischen Kirche Deutschlands unter reichlich moralisch-pikiertem Tschingtarassa abzubrechen. Käßmanns rigorose Ablehnung des Einsatzes deutscher Soldaten in Afghanistan sorgte für politischen Zwist und verschaffte ihr das Image der gnadenlosen Hardlinerin in Sachen Ethik und Moral, die sich einen Dreck um das diplomatisch Notwendige oder politisch Machbare schert. Was mir stets imponierte.
Natürlich kann man ihr leicht vorwerfen, dass ihre stets an ganz grundsätzlichen Idealen entlang argumentierte Auffassung von Recht und Unrecht nur wenig dazu beitragen kann, konkrete Probleme wie beispielsweise die verfahrene und aussichtlose Situation der Bundeswehr in Afghanistan in den Griff zu bekommen. Andererseits ist das auch nicht ihre Aufgabe. Als Vorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland ist sie vielmehr dazu berufen, lautstark für christliche Gebote und Vorstellungen einzutreten und deren Einhaltung auch in politischen Konflikten, auch in gesellschaftlichen Debatten anzumahnen. Und diesen Job macht sie gut. Denn der christlichen Lehre folgend steht das Gebot des absoluten Pazifismus – trotz “Auge um Auge und Zahn um Zahn” - nun mal nicht im Geringsten zur Debatte. Dementsprechend lies auch sie keinen Platz für ein diplomatisch-realpolitisch aufgeweichtes “Ja-aber.”
Die angetrunkene Spritztour am letzten Samstag stellt die von der Welt als “Wächterin strengster moralischer Maßstäbe” titulierte Bischöfin in ein ganz neues Licht – und zwar kein gutes. Man kann es nicht schönreden: 1,5 Promille sind ziemlich viel. Traut man sich Käßmanns Größe und Gewicht großzügig zu schätzen und einen Alkoholrechner mit diesen Werten zu füttern, erfährt man, dass sie mindestens drei große Bier oder etwas mehr als eine Flasche Wein getrunken haben muss. Dass sie danach nicht mehr fahrtüchtig war, kann ihr nicht entgangen sein. Sie ist trotzdem gefahren und hat damit sich und andere in ernsthafte Gefahr gebracht. Ohne Zweifel ist das eine ernsthafte moralische Verfehlung, die geahndet werden soll. Nur wie?
Käßmann ist erwischt worden. Wahrscheinlich ist sie ihren Führerschein los, hat für den Blutalkohol und die rote Ampel empfindliche Bußgelder zu berappen und muss sich in einem Ermittlungsverfahren wegen Trunkenheit am Steuer verantworten, so wie ich es an ihrer Stelle auch müsste. Im Gegensatz zu ihrer wäre meine Trunkenheit jedoch für den Maulwurf innerhalb der Polizei oder den Bildzeitungsjournalisten, der illegal den Polizeifunk abgehört hat, bei Weitem kein so einträgliches Geschäft gewesen.
Und im Gegensatz zu meiner (wohlgemerkt rein hypothetischen) Trunkenheit ist ihre ein öffentliches moralisches Problem. Sie beweist uns, dass auch Margot Käßmann ein Mensch ist. Keine roboterhaft Psalmen zitierende weiße Weste, keine makellose Heilige, kein unfehlbares Orakel. Margot Käßmann macht Fehler, obwohl sie weiß, was richtig ist. Sie tut das Falsche, obwohl sie gebetsmühlenartig dafür eintritt, das Richtige zu tun. Sie erliegt der Verführung, obwohl sie Tugendhaftigkeit predigt. Darf sie trotzdem weiterhin Vorsitzende einer großen Deutschen Kirche sein?
Ich finde jetzt erst recht. Käßmann jetzt ihres Amtes zu entheben würde der Kirche schaden, weil sie damit überführt wäre, noch immer der sehr naiven Illusion verfallen zu sein, irgendjemand sei ohne Sünde und würde ihr Amt daher besser ausfüllen.
Dabei ist es eine Chance: Das Oberhaupt der evangelischen Kirche bereut. Käßmann sei erschrocken darüber, dass sie so einen schlimmen Fehler gemacht habe. In den nächsten Tagen werden sicherlich noch weitere Reuebekundungen folgen. Soll man diesen Glauben schenken? Unbedingt. Glauben muss immer geschenkt werden.
Wie glaubwürdig aber ist eine moralische Instanz aus Fleisch und Blut die allen Ernstes behauptet, stets das Richtige zu tun? Wie kann jemand als lebendiges Vorbild taugen, der sich im Lichte für mich unerreichbarer Unverdorbenheit sonnt? Wem soll ich glauben, er sei frei von Sünde?
Rechtschaffend zu sein ist ein Kampf. Und diesen Kampf gewinnt man nicht jeden Tag. Auch als Kirchenvorsitzende nicht. Umso beeindruckender wäre es, wenn Käßmann sich nach dieser Niederlage erheben würde, um weiterhin mit gewohnter Vehemenz aber hinzugewonnener Menschlichkeit für das Gute und Richtige einzutreten.
Kommentare 15
ja, diese verfehlung ist sehr menschlich, und die bischöfin verliert auch in meinen augen dadurch nicht an glaubwürdigkeit - sehr gut, diesen aspekt einmal zu würdigen ...
vielleicht, ich bin mir noch nicht ganz sicher, gewinnt sie dadurch sogar an glaubwürdigkeit. sie ist ein mensch - so wie alle anderen auch und sie macht fehler. das ist eine aussage an sich. es wird spannend, wie sich diese geschichte innerhalb unserer schnellschussmedienwirklichkeit entwickeln wird. grundsätzlich und ohne auf den konkreten fall anzuspielen (von dessen hintergründen und motivationen ich nichts weiß), möchte ich hiermit appellieren, sich betrunken, wie stark auch immer, in kein motorisiertes fahrzeug zu begeben. öpnv oder taxis stehen, zumal in großstädten, immer zur verfügung. manchmal tut es auch ein längerer spaziergang.
Prima Text, bravo.
"Glauben muss immer geschenkt werden."
Ein wunderschöner Satz noch dazu.
Eine menschliche Verfehlung? Das dann doch nicht.
Wir stellen uns vor, die Dame wäre mit einem Gramm Hasch oder zehn Milligramm Koks erwischt worden. Dann wäre die Bagatelle in nullkommanix zur Staatsaffäre erwachsen.
Wir stellen uns vor, hinter der roten Ampel wäre jemand gestanden, der bei Grün die Straße hätte queren wollte. Dann gnade ihr Gott - oder wie auch immer sie heißt.
Wir stellen uns vor, so ein VW Phaeton (110.000 Euro) wäre ein Maserati. Dann müsste die Dame ein Fall für den Chef der Berliner Treberhilfe sein.
Wir stellen uns vor, die Dame hat ihr Fläschchen Wein nicht - zur Fastenzeit! - seelenallein beim Abend-Mahl verkasematucktelt, sondern nach einem Tagesspiegel-Interview mit Ursula von der Leyen. Dann allerdings...
Wir stellen uns vor, die Polizei stand nicht rein zufällig an der Willy-Brandt-Allee. Dann wurde der FC Grün-Weiß wohl vom lieben Gott geschickt.
Wir stellen uns vor, die Frau Käßmann hat mit Alkohol keine Probleme. Aber ohne.
Nüchtern gesagt: Fahre nie schneller als 0,8 !
"Wir stellen uns vor, die Frau Käßmann hat mit Alkohol keine Probleme. Aber ohne."
Spekulationen. Annahmen. Unterstellungen.
Das einzige was wir sicher wissen, ist, dass wir bisher NICHTS wissen. Vielleicht wird sich Frau Käßmann noch der Öffentlichkeit erklären, dann können wir eventuell Beurteilungen abgeben.
Zum fahren unter Alkohol habe ich oben bereits meine Anmerkungen gemacht ...
@mahung
"Das einzige was wir sicher wissen, ist, dass wir bisher NICHTS wissen."
Stimmt, aber sind es angesichts dieses Nichtwissens nicht arg viele Wortmeldungen?
Manchmal ist das Erschrecken vor den eigenen, verborgenen, abgründigen Möglichkeiten der Anfang eines neuen Weges.
Bei mir waren es vor etlichen Jahren ein paar sehr abgelegene Mecklenburger Landstraßenkilometer. Getankt hatte ich eine Mischung aus Liebeskummer, Weltschmerz und fast eine ganze Flasche Whisky. Der Schreck hat für vier alkoholfreie Jahre gereicht und noch so einiges Andere. Glück gehabt.
Frau Käßmann wird mit ihren Freundinnen und Freunden das Ihre herausfinden.
Ein sehr interessanter von h.yuren:
www.freitag.de/community/blogs/h-yuren/kulturgut-alkohol
Och je-chen. Jetzt machen wir hier als Nächstes die Dose Mitleid auf, oder wie?
Lieber kopfkompass,
ich teile ihre Position und finde sie vollkommen richtig. Wirklich ein gutet Text.
Die Häme aus vielen Medien ist mir fremd.
Was hat man davon, wenn man auf dieser Frau rumhakt?
Sie hat einen Fehler gemacht. Mir sind auch eher die Typen suspekt die niemals Fehler machen oder die niemals bei ihren Fehlern erwischt werden. Bei manchen kommt mir das auch wie eine Abrechnung für Ihre Afghanistan-Position vor, die ja wieder ein anderes Thema ist. Nach der im Vorbeigehen erhaschten
Schlagzeile des heutigen Tages scheint "Bild" mit der öffentlichen Hinrichtung begonnen zu haben.
Herzliche Grüße
rr
die moralische Dimension dieser Geschichte ist mir völlig gleichgültig, die Käßmann soll trinken, rauchen oder Drogen nehmen, wie immer ihr behagt, das ist ihre Angelegenheit und sie wird wie alle Menschen mit den Konsequenzen ihres Tuns und Lassens leben müssen. Sie ist aber außer Privatperson, Bischöfin und Vorsitzende der EKD noch etwas gewesen, nämlich eine Chance und ein Dorn im Auge. Beides wurde ihr von sehr mächtigen gesellschaftlichen und politischen Gegnern ziemlich übel genommen. Sie musste also wissen, dass sie unter Beobachtung steht. Ihre Gegner werden zu schätzen wissen, was sie ihnen mit dieser alkoholisierten Fahrt angeboten hat. Und damit ist es sehr wahrscheinlich, dass die Chance, Frauen in kirchlichen Spitzenämtern zu etablieren für´s erste verspielt ist. Menschlich daher kein Vorwurf. Politisch: so eine Idiotin.
@Lethe
Kein Mensch ist perfekt. Es hätte sich sicher, früher oder später, ein anderer schwacher Punkt gefunden, um sie zu diskreditieren, wäre sie nicht bei Rot betrunken über die Ampel gefahren.
Käßmann ist als in ihrem Amt untragbar. Das war aber auch schon von Anfang an. Genauso wie Huber, der die Weichei-Karte gegenüber dem Katholizismus wählte. Insofern muss man sich nicht weiter wundern. Die Frage ist eigentlich eher wie lange sich die Evangelischen in Deutschland das gefallen lassen, dass ihre Verwaltungshenste und -stuten sich so aufführen. Es muss nicht nur Käßmann ihr Amt räumen, sondern die gesamte EKD-Spitze von diesem Geist gereinigt werden.
Ich meine bitte, kommt Leute, betrunken eine rote Ampel überfahren. Das geht *gar* nicht. Nicht einmal nüchtern würde ich eine rote Ampel überqueren, schon gar nicht mit einem Wagen. Das ist eben preussisch-protestantische Erziehung, entweder hat man die oder nicht.
Eine Bischöfin hat sich auch nicht plumb in politisches "Tagesgeschäft" einzumischen. Ob ich damit inhatlich übereinstimme, was ich tue, oder nicht, das ist gar nicht die Frage.
Wir brauchen wieder eine Stimme aufrechter Streiter für protestantische Werte. Der Fisch stinkt bekanntermaßen vom Kopfe.
Religionskrieg oder was? Protestantische Ethik oder Evangelikale Selbstgefälligkeit? Manchmal ist mir der Katholizismus lieber. Besser ist natürlich, immer einen "gesunden" Abstand zu jeder Art von Religion zu halten.
Ja, warum nicht? Ein bisschen Empathie ist nicht nur gesellschaftlich gesehen, nicht das Schlechteste und zum Glück nicht nur eine Eigenschaft religiöser Menschen ...
Das ist ja gar nicht Religion. Für einen Protestanten ist die Religion immer privat und die Hierarchie "weltlich", eben das zur Verwaltung nötige.
Von einem evangelischen Bekennenden wird erwartet autonom in Zucht zu sein, er braucht keine Autorität über sich ausser seinen Gott. Das unterscheidet ihn vom Katholizismus, bei dem Werte durch die Autorität verkörpert sind, und der Gläubige sozusagen seine Lausbubenstreiche macht.
Also Askese. Keine Chance, seine "Sünden" irgendwo, bei einer irdischen Instanz zum Beispiel, zu sühnen. Berufsarbeit als einzige Ablenkung. Nicht wissen (können) ob man erwählt ist oder nicht. Keine gute Tat auf Erden kann dich sicherer machen. Ziemlicher psychischer Druck, der sich da aufbauen kann, wenn man wirklich evangelisch glauben würde. Also arbeiten und wohl verhalten und hoffen. Besser sie funktionieren! Sicher ist sicher.