Vor einiger Zeit in der „Zwiebel“, wo ich mich einmal im Monat mit M. zu Tischfußball, Bier und Jubi treffe, kam unser Gespräch auf H., der in den 70er Jahren in Bielefeld zwei Reformschulen gegründet hatte und nun, ein alter Mann, seinem Freund, einem anderen pädagogischen Großmeister, der eingestanden hatte, vor vielen Jahren Schüler zum Sex genötigt zu haben, beim Sterben hilft und ihn mit schlechten Argumenten verteidigt.
M., seit drei Jahrzehnten Kollege an einer dieser Reformschulen, seufzte tief, als er von links zum 9:7 einschoss, und sagte:
„Der H. ist eigentlich eine arme Socke. Sitzt in seiner Wohnung und versteht die Welt nicht mehr.“
„Ich finde, er hat dein Mitleid nicht verdient. Das solltest du mit den Opfern seines Freundes haben. Für mich ist er ein Mann, der sich für denHäuptling einer Elite hält und nicht verstehen kann, dass er Rechenschaft ablegen soll. Und er ist eitel. Habe mal im ersten Band seiner Memoiren geblättert: unglaublich, mit welchem Stolz er die Namen von Prominenten aufzählt, die er in seinem Elternhaus kennengelernt hat.“
M. griff zum Pils, nahm einen tiefen Schluck, setzte sein Glas ab, hustete und sagte::
„Koslowski, manchmal bist du ein bornierter Moralist. Moral hilft hier nicht. Ja, er hält sich für Elite, und eitel ist er auch. Aber jetzt ist er ein trauriger Greis, der sich eingestehen muss, dass sein Lebensmensch eine zwielichtige Figur ist.“
Ich suchte Blickkontakt mit der jungen Frau, die uns bediente, bestellte mit einer Geste noch zwei Pils und nahm mir vor, meine Deckung zu verstärken.
„Wie diskutiert ihr das eigentlich bei euch im Kollegium? Seid ihr mit ihm solidarisch oder gibt’s Zweifel an eurem Gründungsvater und seinen pädagogischen Konzepten?“
„Wir reden kaum darüber. Du weißt, wie das ist. Die Mühen des Alltags. Mussten in der letzten Woche einen guten Eindruck machen auf eine Kommission, die über die Nominierung für den deutschen Schulpreis entscheidet. Waren erfolgreich. Außerdem wissen die jungen Kolleginnen und Kollegen kaum noch, wer H. ist.“
Während mein Mittelstürmer eine Vorlage aus dem Mittelfeld abstaubte, ging ich argumentativ in die Vollen:
„Ich bitte dich. Als Linke müssen wir doch die Systemfrage stellen. Kann es sein, dass die Möglichkeit des Missbrauchs von Macht über Kinder und Jugendliche in den Konzepten der Reformpädagogik angelegt ist, in der Vorstellung vom Abbau der Distanz zwischen Lehrern und Schülern oder in dem Gerede vom „pädagogischen Eros“? Das muss man doch an einer Schule, die sich in der Tradition der Reformpädagogik sieht, diskutieren.“
M. verwandelte cool einen Einwurf zum 10:8, schaute mich spöttisch an und schlug vor, zum Pils noch einen Jubi zu bestellen. Nachdem die junge Frau serviert hatte, forderte ich Revanche, und wir konzentrierten unsere Aufmerksamkeit auf das neue Spiel.
P.S. Der Freund der Leitfigur ist unterdessen gestorben. Vor einigen Tagen traf ich auf H., als er einen ehemaligen Schüler in den Ruhestand verabschiedete. Er hatte seine Brille vergessen und improvisierte eine launige Rede, in der es um Freundschaft ging und um die Fähigkeit zu Empathie. Ich war ziemlich beeindruckt.
Kommentare 7
Der Text gefällt mir, Koslowski. Auch wenn ich H. (mittlerweile, allerdings schon lange vor Odenwald) sehr kritisch sehe. Ich kann mir trotzdem gut vorstellen., dass er immer noch ziemlich beeindruckt.
"Was diskutiert ihr eigentlich im Kollegium?" Diskutiert? Es wird nicht mehr diskutiert! Wir überlegen gemeinsam, wie wir als Folge der Schulinspektion, die man Qualitätssicherung zu nennen wagt, die Vereinbarung von Schulleitung und Dezernent, mindestesn 33,333... Prozent des Unterrichts nach der Methode des "kooperativen Lernens" zu gestalten, einhalten können. Überlegen? Es wird nicht mehr überlegt! Wir nehmen zur Kenntnis, dass wir für das Schulprogramm noch die Kompetenzen für die Lehrpläne der Oberstufe zu definieren haben, obwohl das Zentralabitur alles vorgibt. Dass an einem bestimmten Tag wieder eine Amokübung stattfinden wird - wahlweise auch Feuerwehrübung. Zur Kenntnis nehmen? Es wird nicht nur zur Kenntnis genommen! Wir treten in Reih und Glied an, um praktisch die Kompetenz der fachgerechten Bedienung eines Feuerlöschers zu erwerben. Antreten bis zum Abtreten! Das wollen ziemlich viele Kollegen in unserem eigentlich sehr schönen Beruf. Der Wunsch wird uns erleichtert: wir vertreten uns zu Tode.
wasn ein Jubi? Korn?
H. war in unser aller Munde, das stimmt.
Finde den Text auch sehr gut. Gerne gelesen. Muss aber zugeben, dass ich in diesen pädgogischen Diskussionen nicht so sehr im Thema stecke. Die Verbindung um Sport finde ich aber hervorragend.
Herzliche Grüße
por
Noch so ein Blog,
und ich werde Fußballfan
(das ist keine Drohung, koslowski!-))
Zwei Fragen zum Spiel bleiben:
1., Von welcher Seite kam der Einwurf, der zum 10:8 fuehrte?
2., Spielt man in der "Zwiebel" Tischfussball mit 18 Baellen statt mit 11?
Jubi = Jubiläums-Aquavit ( mit Kümmel, eiskalt serviert, Digestif, mittleres Preissegment zwischen Malteser und Linie, in OWL populäre Sorte )
ad1. Keine genaue Erinnerung, wahrscheinlich irgendwie von links;
ad 2. 11 Bälle, wir spielen bis 10, verbilligtes Abo, weil langjährige Stammgäste.